Editorial

Althusser revisited

Mit der Veröffentlichung der Autobiographie Die Zukunft hat Zeit wurde ein Schweigen durchbrochen, das seit 1980 über das Leben und die Philosophie Althussers verhängt worden war. Nach der Veröffentlichung der späten Schriften Althussers ist darüber hinaus sein bisher bekanntes theoretisches Werk noch einmal zu rekapitulieren und neu zu redigieren. Dies ist das Thema dieser Nummer von episteme.

Noch 1970 hatte Louis Althusser mit Engels und Lenin behauptet, daß die westliche philosophische Tradition sich auf den bloßen Gegensatz zwischen Idealismus und Materialismus zurückführen lasse. Knapp 15 Jahre später, in Der unterirdische Strom des Materialismus der Begegnung, differenziert er diese These, indem er nunmehr eine unterirdische materialistische Tradition in der Philosophie postuliert, die von der offiziellen philosophischen Geschichtsschreibung verdrängt und entschärft worden sei und die auch nichts mehr mit dem offiziellen Materialismus in der Nachfolge von Marx zu tun habe, der aufgrund seines Rationalismus lediglich "eine umgewandelte und verdeckte Form des Idealismus" darstelle. Anhand von Begriffen wie Aleatorik, Kontingenz, Nichts, clinamen, Begegnung oder Abweichung und an Autoren wie Epikur, Lukrez, Machiavelli, Spinoza, Hobbes, Rousseau oder auch Marx (als Theoretiker der ursprünglichen Akkumulation) legt Althusser in diesem Beitrag die ganze Sprengkraft dieser materialistischen Tradition wieder frei.

Außer dem Aufsatz "Der unterirdische Strom des Materialismus der Begegnung" in dieser episteme-Nummer ist bisher kein einziger der späten Texte Althussers aus den Jahren 1982-1985 auf deutsch veröffentlicht worden. Und das völlig zu Unrecht - sie verdienen unsere vollste Aufmerksamkeit, wie Vittorio Morfino in seinem Beitrag Ein Althusser-Lexikon betont. Gegen Interpretationen des Spätwerks Althussers, die dieses auf seine Autobiographie reduzieren (der "Fall" Althusser) oder ihm im Hinblick auf seine früheren Schriften eine Kehre oder eine Kontinuität attestieren, wählt Morfino nun mit der Erstellung dieses Lexikons ein nicht-lineares Verfahren. Ziel des Lexikons ist es, "die Schwankung gewisser Schlüsselbegriffe durch die verschiedenen Kontexte, in denen sie auftauchen und intervenieren, nachzuzeichnen." Mit der Diskussion dieser Begriffe wie die Leere/das Nichts, die Begegnung, Faktizität, Konjunktur und Notwendigkeit/Kontingenz gelingt es ihm, die systematische Struktur der späten Texte Althussers aufzuzeigen.

In seinem Artikel "Zuletzt endlich - Brot und Rosen." Ein Bericht über Althussers Juni-Thesen referiert Frieder Otto Wolf ausführlich diejenigen 12 Thesen, die Althusser im Jahre 1986 geschrieben hatte und die ursprünglich als Vorlage für einen Gründungskongreß für eine internationale Befreiungsbewegung gedacht waren. Diese Thesen können nach Wolf dabei demonstrieren, auf welche Art und Weise Althussers Konzept des aleatorischen Materialismus mit seiner Vorstellung einer radikalen Politik verbunden ist und wie er im Lichte dieses Konzepts auf seine früheren philosophischen Eingriffe rekurriert. Wesentliche Kontinuitätslinien sind dabei auf der theoretischen Ebene die Suche nach einer "richtigen" Philosophie für den Marxismus, die fähig wäre, den dialektischen Materialismus in der Fassung von Engels und Stalin zu ersetzen, auf der politischen Ebene die Betonung der zentralen Bedeutung der Ideologie und des Klassenkampfes.

Ausgehend und in Abgrenzung zur derzeitigen wiedererwachten akademischen Poulantzas-Konjunktur in Deutschland diskutiert Sebastian Reinfeldt in seinem Beitrag Niemals den Klassenkampf vergessen! Poulantzas und Althusser die Relevanz beider Autoren für die Beschreibung der sozialen Kämpfe von heute. Wenn es das Entscheidende beim Konzept des Klassenkampfs ist, "welche Kraft er an welchen Orten entwickelt und welche strukturierenden Wirkungen er hat", dann stellt sich die Frage, ob die Sicht von Poulantzas nicht auf die politische Ebene, nämlich auf die radikale Transformation des Staates, begrenzt bleibt. Erst der "späte" "aleatorische" Althusser kann demgegenüber darauf aufmerksam machen, wie sich soziale Kräfte allererst subjektiv und ideologisch als Abweichung neben und quer zu den politischen Konstellationen artikulieren.

Der Entstehung des Bösen aus dem Guten bei Badiou widmet sich Wilhelm Roskamm in seinem Beitrag Das Böse in Alain Badious Ethik der Wahrheiten. Das Gute sind bei Badiou Prozesse und Praktiken in Politik, Wissenschaft, Kunst und Liebe, die sich unter drei Voraussetzungen konstituieren: der Kontingenz der Ereignisse, der Treue der Subjekte zum Ereignis bzw. den Prozessen und der Unendlichkeit der Wahrheit. Die Unterbrechung dieser Prozesse durch die Störung einer ihrer Voraussetzungen ist jetzt genau das, was Badiou das Böse nennt. Der Ethik kommt in seiner Philosophie daher die Aufgabe des Korrektivs zu, das diese Gefahren zu bannen sucht, die vom Bösen auf die Prozesse des Guten ausgehen. Uns scheint, daß Badiou sich mit dieser Ethik sehr stark Althussers Konzept eines aleatorischen Materialismus angenähert hat. So besitzt einerseits die Rede von der Kontingenz der Ereignisse einen direkten Bezug zur Aleatorik. Gegen den äußeren Anschein ist weiterhin die Verwendung von Begriffen wie "Subjekt" oder "Wahrheit" in dieser Ethik keine idealistische: sie stellt vielmehr eine Reformulierung dieser Begriffe nach ihrem postmodernen Tod dar.

 
 
Michael Heister und Richard Schwarz