Das Böse in Alain Badious Ethik der Wahrheiten

von Wilhelm Roskamm

Einleitung

Paul Ricoeur hatte einmal vom „Skandal des Bösen“ gesprochen. Nun besteht der eigentliche Skandal des Bösen heutzutage nicht in der Existenz oder der Möglichkeit des Bösen überhaupt, sondern eher in der inflationären Verwendung dieses Ausdrucks. Was auch immer als böse bezeichnet wird, es bleibt dabei das Denken des Bösen aus seinen Entstehungsbedingungen auf der Strecke. Stattdessen wird das Böse zu einer affektiv aufgeladenen, unerklärlichen Begebenheit, die es in einem (selbst-)affirmativen Aktionismus zu bekämpfen gilt. Aber vermehrt sich dadurch nicht erst das Böse? Nicht nur in dem Sinne, dass im Namen des Kampfes gegen das Böse gerade das Böse getan wird, sondern auch in Bezug auf das „ursprünglich“ Böse. Im Sinne einer Erschaffung des Bösen ließe sich auch Ricoeur verstehen, wenn man ihn etwas gegen den Strich liest:

Das Böse ist das, wogegen man kämpft, wenn man einmal darauf verzichtet hat, es zu erklären.1


Sollte man gegen diesen inflationären Gebrauch nicht ganz auf den Ausdruck „das Böse“ verzichten? Und reicht als Gegenbegriff zum „Guten“ nicht auch die Bezeichnung „das Schlechte“? Zumindest zeitweise und in gewissen Strömungen hielt sich die Philosophie an Nietzsches Formel, dass das Leben „jenseits von Gut und Böse“ sei, und hielt sich in Bezug auf die Verwendung des „Bösen“ zurück. Oder sollte man die umgekehrte Strategie verfolgen? Den Meinungen über das Böse einen differenzierten Begriff des Bösen entgegensetzen und das Böse in seiner Entstehung denken, um dann auch den Kampf gegen das Böse denselben Kriterien zu unterwerfen?

Alain Badiou hat sich in seinem Essay Ethik – Versuch über das Bewusstsein des Bösen für diese zweite Strategie entschieden. Er setzt der übercodierten Verwendung des „Bösen“, das eng mit der vermeintlichen „Rückkehr des Religiösen“ in Zusammenhang steht, eine differenzierte Theorie des Bösen entgegen, um dieses Feld nicht dem Nicht-Denken zu überlassen. Ähnliches gilt auch für seine Konzeption der Ethik, die er der zeitgenössischen „Rückkehr der Ethik“ entgegensetzt.

Wenn hier Badious Ethik der Wahrheiten vorgestellt werden soll, dann muss zuallererst – und wenn auch in knapper Form – Badious komplexe und in Deutschland bisher kaum bekannte Philosophie dargestellt werden. Danach soll in einem zweiten Schritt die Grundlegung der Ethik aus Badious Philosophie entwickelt werden. Im Mittelpunkt steht dabei der Begriff der Treue. Von dem, durch seine Ethik positiv bestimmten Guten werden dann – in einem dritten Abschnitt – drei Formen des Bösen abgeleitet.

Philosophisches Schibboleth

Universal ist nur, was sich in immanenter Ausnahme befindet.
Alain Badiou (P2, 204)

In seinem Buch über das Verhältnis von Mathematik und Philosophie, das den Titel Gott ist tot – Kurze Abhandlung über eine Ontologie des Übergangs trägt, greift Badiou noch einmal die These vom Tod Gottes auf. Nicht um sie erneut zu diskutieren, denn für ihn ist es eine Selbstverständlichkeit, dass Gott tot ist. Trotz der vermeintlichen Rückkehr des Religiösen im zeitgenössischen Denken stellt die Frage, ob Gott existiert oder nicht, für ihn kein Problem mehr dar. Dadurch kennzeichnet sich die Modernität seines Denkens. Für Badiou ist der Tod Gottes ein Ereignis im Denken, ein unumkehrbares Ereignis des modernen Denkens: es ist eine Bedingung für jede Philosophie, die sich als moderne Philosophie verstehen will.

Ein Grund für die Thematisierung des Todes Gottes ist Badious Auseinandersetzung mit Heidegger. Für Badiou gibt es nicht nur einen Gott, sondern drei: den lebendigen Gott der Religion, den begrifflichen und von daher leblosen Gott der Metaphysik und den sich zurückziehenden Gott der Dichtung. Den dritten Gott, den Gott der Dichtung leitet Badiou aus der fundamentalen Aporie Heideggers ab, dass dieser die Metaphysik und mit ihr jede Bestimmung von Gott als Transzendenz destruiert hat, aber gleichzeitig die Rettung unserer Welt von dem Wiedererscheinen eines Gottes abhängig macht (GT, 16). Heideggers berühmter Ausspruch, dass „allein ein Gott uns retten kann“3, ist für Badiou der Ausdruck davon (GT, 24), dass es noch einen dritten Gott gibt, der nicht mit dem metaphysischen verwechselt werden darf. Es ist der Gott der Dichtung, wie er bei Hölderlin erscheint und von Heidegger aufgegriffen wurde. Dieser Gott bestimmt sich dadurch, dass er sich zurückgezogen hat und die Welt als Beute für die Entzauberung hinterlässt (GT, 17). Der Glaube an diesen Gott wird zu einer nostalgischen Beziehung, da „die Chancen einer Wiederverzauberung der Welt in der Melancholie durch die unmögliche Rückkehr der Götter anvisiert“ (GT, 17) wird. Durch diese melancholische Figur werden der Tod Gottes und die Entzauberung erträglich gemacht. Gleichzeitig werden aber die Entzauberung der Welt und die Ereignisse, die mit dieser Entzauberung zusammenhängen, aus einer rein negativen Perspektive betrachtet. Dies zeigt sich am deutlichsten in Heideggers Einführung in die Metaphysik, in der er das Verdunkeln der Welt auf der Erde durch eine Liste „der wesentlichen Ereignisse des Verdüsterns“ (GT, 25) begründet. Zu diesen Ereignissen zählt bei Heidegger neben der Flucht der Götter „die Zerstörung der Erde, die Vermassung des Menschen, der Vorrang des Mittelmäßigen“4. Diese doppelte Figur von unmöglicher Rückkehr der Götter und der möglichen Wiederverzauberung der Welt auf der einen und der Entzauberung der Welt auf der anderen Seite sind für Badiou die Bedingungen des „poetisch-politischen Dispositivs“ (GT, 18), von dessen Grund aus sich Heideggers ganze Philosophie mit den bekannten Themen – der Uneigentlichkeit des Mans, der Verlassenheit des Daseins, seiner Analyse der Angst, des Seins zum Tode usw. – entfaltet.

Im Mittelpunkt dieses poetisch-politischen Dispositivs befindet sich das Motiv der Endlichkeit, das im Zentrum von Badious Kritik steht. Durch diese Kritik an der Endlichkeit bekommt seine Interpretation von Heideggers Philosophie als melancholischer auch seine Plausibilität. Dieses für die moderne Philosophie zum Konsens gewordene Motiv der Endlichkeit steht für Badiou mit dem Versprechen der Rückkehr der Götter und der Wiederverzauberung der Welt in Zusammenhang und ist für ihn ein „Überbleibsel in der Bewegung“, „die die Ablösung des Gottes der Religion und des metaphysischen Gottes dem Gott des Gedichtes anvertraut“ (GT, 18). Badious Ziel besteht darin, „die dreifache Absetzung der Götter“ (GT, 21) zu bejahen, eine moderne, nicht melancholische Philosophie zu begründen und dabei das poetisch-politische Dispositiv hinter sich zu lassen, wie es sich am deutlichsten in der Philosophie von Heidegger, aber nicht nur in ihr zeigt. Will die Philosophie sowohl ohne Versprechen als auch ohne „heideggerianische Schicksalhaftigkeit“ (GT, 25) auskommen, muss sie sich auf das „Hier“ gründen: auf die Erfahrungen, die wir in dieser Welt machen und denen wir hier in ihrer Wahrheit die Treue halten können (GT, 21). Dies ist ein zentraler Ausgangspunkt von Badiou.

Da wir uns auf die dreifache Absetzung der Götter eingelassen haben, können wir bereits sagen, wir, die Bewohner der unendlichen Dauer der Erde, daß alles hier, immer hier ist und daß die Kraft des Gedankens in der egalitären Fadheit liegt, die eine feste und erklärte Erfahrung dessen hat, was uns hier zukommt. Hier ist der Ort des Werdens der Wahrheiten. Hier sind wir unendlich. Hier ist uns nichts versprochen, als dem, was auf uns zukommt, treu zu sein. (GT, 21)


Durch diese Bezugnahme auf das „Hier“ als Ort, von dem aus gedacht wird, ergibt sich für Badiou auch eine andere Perspektive auf die modernen Ereignisse, die mit der Entzauberung der Welt in Zusammenhang stehen. Für Badiou impliziert die Entzauberung der Welt auch gleichzeitig eine Erhellung, die er Heideggers Verdunklung der Welt entgegensetzt. So schreibt Badiou in direktem Bezug zu Heideggers Auflistung:

Derart daß die Flucht der Götter auch der wohltuende Abschied ist, der ihnen von den Menschen gegeben worden ist; derart daß die Zerstörung der Erde auch ihre Herrichtung als für das aktive Denken gültige Schicklichkeit ist; derart daß die Hordenbildung auch der egalitäre Einbruch der Massen auf die Bühne der Geschichte ist; derart daß das Vorherrschen des Mittelmäßigen auch der Glanz und die Dichte dessen ist, was Mallarmé die eingeschränkte Handlung nannte. (GT, 25)

Was sich in dieser Uminterpretation des modernen Ereignishorizontes schon abzeichnet, ist ein zentraler Aspekt von Badious Denken. Wie beim Tod Gottes handelt es sich bei den aufgelisteten Punkten um Ereignisse, die als Brüche in der Geschichte unhintergehbar sind und deshalb zu Bedingungen des Denkens werden. In Badious Philosophie des Ereignisses bilden Ereignisse den Rand, den Saum für das Hier, in dem wir leben, aber in dem wir auch unsere gegenwärtigen Situationen überschreiten. Diese Überschreitung wird möglich, wenn Badiou dieses Hier – entsprechend seiner Kritik an dem poetisch-politischen Dispositiv – nicht mit der Endlichkeit, sondern mit der Unendlichkeit verknüpft:

Und daß wir infolgedessen, nachdem wir von jeder Endlichkeit den Anker weggezogen haben, das Unendliche als absolut flachen Aufenthalt bewohnen. (GT, 20)

Um die scheinbare Paradoxität dieser Rehabilitierung des Unendlichen aufzulösen, muss Badiou die Unendlichkeit, die in der Philosophie immer von dem Einen abgeleitet wurde, von der „Vernähung“ mit einer wie auch immer verstandenen Transzendenz lösen. Dies wird ihm möglich, indem er vier Grundelemente der Mengenlehre in Philosophie „übersetzt“ und deren Theorie der Mannigfaltigkeiten als Ausgangspunkt seines Denkens nimmt. Die Mengenlehre kennzeichnet sich durch folgende Aspekte, aus denen sich Badious Hinwendung zur modernen Mathematik begründet: die Mengenlehre ist das Denken des Unendlichen, das sich von der Eins losgelöst hat; es kann keine Menge aller Mengen, keine Allmenge geben; die Mengen lassen sich als reine Mannigfaltigkeiten, als Mannigfaltigkeiten von Mannigfaltigkeiten bestimmen, deren zugrunde liegendes Element nicht die Zahl 1 ist; sondern an die Stelle der 1 tritt die leere Menge als konstitutives Grundelement (GT, 34). Mit der Mengenlehre, so wie sie sich bei Cantor, Gödel und Cohen ausgeprägt hat, kann Badiou aus den drei grundlegenden Ideen – der Unmöglichkeit einer Totalität des Seienden, dem Denken des Seins als reine Vielfältigkeit, als Mannigfaltigkeiten von Mannigfaltigkeiten und dem Denken ohne ursprüngliche Einheit – die Idee einer nicht-transzendenten Unendlichkeit ableiten:

Insofern, als keinerlei immanente Begrenzung vom Einen her die Vielfältigkeit als solche bestimmt, gibt es kein ursprüngliches Prinzip der Endlichkeit. Das Vielfache kann also als Un-endliches gedacht werden. Oder gar: die Unendlichkeit ist ein anderer Name für die Vielfältigkeit als solche. Und da auch kein Prinzip das Unendliche mit dem Einen verbindet, muß man die These aufstellen, dass es eine Unendlichkeit von Unendlichen, eine unendliche Zerstreuung der unendlichen Vielfältigkeiten gibt. (GT, 32)

Weil das Mannigfaltige aus unendlichen Mannigfaltigkeiten zusammengesetzt und es durch nichts begrenzt ist, ist das Mannigfaltige als reine Mannigfaltigkeit „radikal Ohne-Eins“ (GT, 32). Und deshalb gibt es kein Prinzip der Endlichkeit. Somit hat Badiou die Gleichsetzungen von Unendlichkeit = Transzendenz und Endlichkeit = Immanenz aufgelöst und verschoben. Dasselbe gilt auch für deren Zuschreibung zu Vernunft und Glaube: das Denken ist sehr wohl imstande das Unendliche zu denken, ohne dass ein Rest bleibt, der dann dem Glauben zugeschrieben wird, um die endliche Vernunft zu ergänzen.5 Nun gibt es für Badiou sehr wohl Endlichkeiten. Nicht als philosophisches Prinzip, sondern als Endlichkeiten der Welt oder – in Badious Terminologie – als Endlichkeiten von Situationen. Die Endlichkeit konstituiert sich durch die Strukturierung des Mannigfaltigen einer Situation. Diese Strukturierung impliziert die „Für-eins-Zählung“ (GT, 23), die VerEin(s)heitlichung und macht aus den reinen Mannigfaltigkeiten abzählbare Mannigfaltigkeiten. Nach Badiou geht es in der Philosophie darum, „das Sein diesem Zugriff des Einen zu entreißen“ (GT, 25), in einer Art Ontologie der Substraktion die Mannigfaltigkeiten ohne strukturierende „Potenz des Einen“ (GT, 29) zu denken und den Strukturen die Ereignisse entgegenzusetzen, um die nicht-transzendente Unendlichkeit als Ort der Überschreitung der gegenwärtigen Situation und als Ort der Verbindung der Ereignisse mit dem Hier, in dem wir leben, zu etablieren und zu denken.

Gerade die Selbstverständlichkeit, mit der Badiou jede Form der Transzendenz ablehnt und seinen Atheismus aus der modernen Konstellation des Denkens begründet, macht es ihm möglich, ein unproblematisches Verhältnis zu Religion und Theologie zu haben. So scheint in seinen Äußerungen zur Religion immer wieder eine gewisse Sympathie für die Religion durch. Dies gilt natürlich nur für eine lebendige Religion, in der Gott Teil einer lebendigen Gemeinschaft ist, und nicht für die modernen religiösen Erscheinungen: entweder wird der Glaube an Gott zu einer rein privaten Angelegenheit oder es entstehen religiöse Bewegungen, die sich in ihren Fundamentalismus einschließen. Es handelt sich bei diesen Phänomenen keineswegs um eine Rückkehr des Religiösen, vielmehr findet Badiou in ihnen eine Bestätigung der Nicht-Existenz einer lebendigen Religion. Mit dem Tod Gottes verschwindet nämlich nicht nur die Gemeinschaft mit Gott, sondern durch den Tod Gottes dringt der Tod selbst als „dunkles“ Element in die Religion ein (GT, 16). So bestimmt Badiou in einer Art Psychoanalyse der Religion die modernen Fundamentalismen als unbewusste Wiederkehr der Verdrängung des Gottestodes und zwar in Form einer Suche nach dem „Schuldigen am Tod Gottes“ (GT, 15). Aus dieser Wiederkehr des Verdrängten entsteht nach Badiou „die verzweifelte und blutige Bejahung einer künstlichen und todbringenden Religion“ (GT, 15), wie wir sie heute vielerorts finden.

So wie Badiou Sympathien gegenüber der lebendigen Religion hegen kann, ist es ihm möglich, in seinem Denken religiöse Motive aufzugreifen. Badious Denken ist eine radikale Affirmation der Immanenz und gleichzeitig kann er mit seiner Idee des Unendlichen Denkfiguren in seine Philosophie aufnehmen, die normalerweise der Theologie und der Religion vorbehalten sind. Zu diesen Denkfiguren gehören neben dem Unendlichen die Begriffe des Bösen und der Unsterblichkeit, der eng mit der Unendlichkeit in Zusammenhang steht. Badious Idee der Unsterblichkeit – nach der Auflösung des Bandes von Transzendenz und Unendlichkeit – spielt eine wichtige Rolle sowohl in seiner Ethik als auch in seiner „Anthropologie“.

Badious „Anthropologie“, so wie sie sich in seinem Buch Ethik – Versuch über das Bewusstsein des Bösen (Dem Übersetzer dieses Textes, Jürgen Brankel6, sei an dieser Stelle Dank ausgesprochen für die freundliche Überlassung seines Manuskriptes. Seine Übersetzung ist inzwischen im Turia + Kant Verlag Wien erschienen.) darstellt, beginnt nicht mit der klassischen Unterscheidung von Mensch und Tier, sondern mit der Entgegensetzung von zwei „Seinsweisen“ des Menschen: des menschlichen Tieres und des Menschen, der auch – wie Badiou etwas pathetisch sagt – zu einem „Unsterblichen“ (E, 23) oder zu einer „unsterblichen Einzigartigkeit“ (E, 22) werden kann. Das menschliche Tier ist keine biologische Kategorie, sondern bezeichnet das normale, alltägliche Leben. Badiou bezieht sich in seiner Bestimmung des menschlichen Tieres auf das Prinzip der Selbsterhaltung oder – wie es Spinoza auch genannt hat – „das Ausharren im Sein“ (E, 67): der Mensch ist vor allem damit beschäftigt, seine Interessen, welche es auch immer sein mögen, zu verfolgen, mit dem Ziel, seine Bedürfnisse zu befriedigen bzw. Erfolg zu haben. Dieses Prinzip der Selbsterhaltung ist, wie Badiou mit Anspielung auf Nietzsche sagt, „diesseits von Gut und Böse“ (E, 83). Das gilt selbst dann, wenn dieses Prinzip zu Grausamkeiten führt. Durch die Grausamkeit bzw. die Gewalt, die nicht mit dem Bösen verwechselt werden darf (E, 90), kennzeichnet sich das menschliche Tier gegenüber den anderen Tieren und begründet sich die menschliche Vormachtstellung:

Er hat sich als das Durchtriebenste, das Geduldigste und das den grausamen Begierden seiner eigenen Macht halsstarrig Unterworfenen aller Tiere erwiesen. (E, 81)

Dagegen gibt es eine Dimension im Menschen, die das interessegeleitete Dasein und die damit verbundenen Lebensumstände übersteigt. Im Menschen gibt es eine Dimension, an der jeder Mensch zumindest potenziell teilhat und wodurch er mehr ist als ein menschliches Tier. Der Einzelne verändert sich durch diese Dimension und hat teil an etwas, wodurch er noch seine eigene Sterblichkeit überschreitet. Im Zusammenhang mit dem Aspekt der Überschreitung bezeichnet Badiou diese Seinsweise mit dem Ausdruck „Unsterblichkeit“. So schreibt Badiou in seiner Ethik:

Es sind die Rechte des Unsterblichen, die sich für sich selbst behaupten, oder die Rechte des Unendlichen, die ihre Souveränität über die Kontingenz des Leidens und des Todes ausüben. Dass wir letztlich alle sterben und nur Staub übrig bleibt, ändert nichts an der Identität des Menschen als Unsterblichen in dem Augenblick, in dem er entgegen dem Tier-Sein-Wollen, dem er durch die Umstände ausgesetzt ist, das bejaht, was er ist. Und jeder Mensch ist unvorhergesehenerweise, man weiß es, fähig, dieser Unsterbliche in großen oder kleinen Umständen, für eine – ganz gleich wie – bedeutende oder unbedeutende Wahrheit zu sein. In allen Fällen ist die Subjektivierung unsterblich und macht den Menschen aus. (E, 23)

Diese „anthropologische“ Entgegensetzung von menschlichem Tier und dem Unsterblichen, „der der Mensch auch sein kann“, verweist – wie schon einige vorher angedeutete Entgegensetzungen – unmittelbar auf die ontologische Differenz, durch die Badious Philosophie grundlegend bestimmt werden kann. Badiou verwendet den Begriff der ontologischen Differenz nicht für seine Philosophie, er steht etwas quer zu seiner Terminologie, doch der Gehalt der Differenz von Ereignis und Sein und der damit zusammenhängenden Reihen von Begriffspaaren entspricht dem, was man mit Heidegger als ontologische Differenz bezeichnen kann. Zu diesen Begriffspaaren gehören Ereignis und Situation, Wahrheit und Wissen, Subjekt und Individuum, Leere und Fülle – um hier nur einige zu nennen. Auch wenn es zwischen diesen Dimensionen eine unauflösbare Kluft gibt, darf man deren Entgegensetzung nicht als strikten Dualismus oder – trotz Badious ständiger Bezugnahme auf Platon – als Zwei-Welten-Lehre verstehen. Es handelt sich bei diesen Dimensionen um die zwei Seiten ein und derselben Wirklichkeit, um eine Wirklichkeit mit zwei verschiedenen Seiten, und diese beiden Seiten sind in der Wirklichkeit eng verschränkt. Entsprechend dieser Verschränkung bezeichnet der Ausdruck „Ereignis“ den Bruch in der Geschichte der Situationen und genauso handelt es sich bei dem Verhältnis von Wissen und Wahrheit um eine „symptomatische Verdrehung des Seins, [...] die eine Wahrheit in der allzeit-totalen Textur des Wissens ist“ (EE, 24)7.

Durch die Unterscheidung von zwei Seiten der Wirklichkeit besteht die Gefahr, dass man Badious Denken als Dualismus interpretiert. Die Möglichkeit einer dualistischen Interpretation kommt dadurch zustande, dass aus der Perspektive einer positivistischen Haltung nur die eine Seite als „Realität“ erscheint, während die andere Seite als Transzendenz dieser „Realität“ bestimmt wird. Der Wahrheitsgehalt dieser positivistischen Perspektive begründet sich aus der Philosophie Badious durch den Sachverhalt, dass nur derjenige die andere Seite der Wirklichkeit „erkennt“, der durch die Subjektivierung eines Ereignisses Anteil an der Wahrheit dieses Ereignisses hat. Die zweite Seite der Wirklichkeit konstituiert sich also nur dadurch, dass es Individuen gibt, die sich durch ihre Treue zu einzelnen Ereignissen als Subjekte konstituieren und dessen Wahrheit in den Situationen bekunden. Ereignis, Subjekt und Wahrheit sind die drei Begriffe, durch die in Badious Terminologie die andere Seite der Wirklichkeit beschrieben wird und die in ihrem Zusammenhang das konstituieren, was Badiou als Wahrheitsprozess bezeichnet. Die positivistische Reduzierung der Wirklichkeit auf das empirisch Gegebene oder die sie konstituierende Struktur schließt somit die Dimensionen des Wahrheitsprozesses aus. Dies führt auch dazu, dass das Subjekt nicht als „freies“, sondern nur im negativen Sinne als den Strukturen und Machtverhältnissen unterworfenes gedacht werden kann.

Nun handelt es sich bei Badious Philosophie keineswegs um die Reaktivierung der Subjektphilosophie, sondern er erschafft einen neuen Subjektbegriff. Zwei Aspekte sind dabei entscheidend. Zum einen gibt es für Badiou kein abstraktes Subjekt (E, 61), sondern heterogene Subjekte entsprechend den vier irreduziblen Wahrheitsbereichen: der Wissenschaft, der Politik, der Kunst und der Liebe. Das Subjekt ist weder ein psychologisches oder reflexives noch ein transzendentales Subjekt, sondern „Träger eines Wahrheitsprozesses“ (E, 64). Bevor der Wahrheitsprozess stattgefunden hat, gibt es also kein Subjekt. Das Individuum wird erst zum Subjekt, wenn es in den Wahrheitsprozess eintritt und zum Träger dieser Wahrheit wird. Das Individuum überschreitet durch dieses Subjekt-Werden nicht nur die Situation, in der es lebt, sondern auch sich selbst. Genaugenommen handelt es sich beim Subjekt-Werden eines Individuums nicht um die Transformation eines Individuums in ein Subjekt, sondern in ein Subjekt, an dem auch mehrere Individuen teilhaben können. So treten die Liebenden „in die Komposition eines Subjektes der Liebe“ ein, „das über jeden von beiden hinausschreitet“ (E, 64). Und so ist das Subjekt eines künstlerischen Wahrheitsprozesses nicht der Künstler, sondern es sind die Kunstwerke, an denen der Künstler teilhat, „ohne dass man die Werke irgendwie auf ‚ihn’ zurückführen könnte“ (E, 65). Das komplexe Verhältnis zwischen Individuum und Subjekt, das sich durch die Aspekte der Überschreitung, der Teilhabe und des Nicht-Wissens kennzeichnet, beschreibt Badiou wie folgt:

Der ‚Jemand’, der als der Zeuge dessen aufgefasst wird, dass er als Stützpunkt zum Prozess einer Wahrheit gehört, ist zugleich er selbst, nichts anderes als er selbst, eine vielfache Singularität, die unter allen anderen ausgemacht werden kann, und im Verhältnis zu sich selbst im Überschuss, weil die zufällige Spur der Treue durch ihn hindurchgeht, seinen singulären Körper erstarren lässt und ihn, vom Inneren selbst der Zeit her, in einen Augenblick der Ewigkeit einschreibt. (E, 66)

Und zum anderen ist das Subjekt nicht an ein Objekt gebunden. Infolge der modernen Problematisierung des Subjekt-Objekt-Verhältnisses verknüpft sich bei Badiou das nun objektlose Subjekt mit dem Ereignis: „ein Subjekt sozusagen ohne Gegenüber“ (MP, 97). Für ihn ist das endliche Subjekt der Träger der unendlichen Wahrheit, wie sie von einem kontingenten Ereignis ausgeht.

Das Subjekt ist in seinem Sein nichts anderes als eine Wahrheit, begriffen in ihrem reinen Punkt, es ist eine verschwindende Qualität der Wahrheit, ein differentielles Entschwinden seiner unvollendbaren Unendlichkeit. (PW, 52)

Die Freiheit des Individuums liegt bei Badiou darin, dass wir unserem Ergriffensein durch ein Ereignis die Treue halten und uns dadurch als Subjekt, als Teil eines Subjektes konstituieren können. Dies impliziert gleichzeitig, dass wir durch unser Subjekt-Werden eine gewisse Distanz zu den Situationen, in denen wir leben, herstellen können. Mag die Gleichzeitigkeit von Subjektivierung und Distanzierung und deren Verbindung mit der ontologischen Differenz, so wie sie sich bei Badiou verstehen lässt, vielleicht etwas befremdend anmuten, so hat sie doch ihre Grundlage in der Erfahrung. Und haben wir nicht alle schon die Erfahrung der Subjektivierung durch ein Ereignis gemacht? Und wenn nicht in der Wissenschaft und der Kunst, so doch zumeist in der Liebe und vielleicht auch in der Politik. Und haben wir nicht alle auch die Erfahrung gemacht, dass wir nach unserem Subjekt-Werden ein anderes Verhältnis zu den Situationen haben, in denen wir leben? Durch diese Erfahrung stellt sich in jedem Individuum die andere Seite der Wirklichkeit in ihrer Immanenz her. Deshalb findet das Denken der ontologischen Differenz bzw. der beiden Seiten der Wirklichkeit, so wie wir es bei Badiou finden, ihren Grund in der Erfahrung des Individuums und ermöglicht ein Denken der Immanenz, das zugleich den bestehenden Verhältnissen kritisch gegenüberstehen kann.

Das paradoxe, scheinbar tautologische Verhältnis der beiden Seiten der Wirklichkeit, das die Grundlage von Badious komplexer Philosophie bildet, hatte Zizek in seinem Buch Die Tücke des Subjektes als „Logik des Schibboleth“ (TS, 184) bezeichnet. In der biblischen Erzählung (Richter 12, 4-6) über den Kampf der Stämme der Gileaditer und der Ephraimiten stand das Wort „Schibboleth“ im Mittelpunkt. Dieses Wort hatte bei beiden Stämmen dieselbe Bedeutung, wurde aber unterschiedlich ausgesprochen: Schibboleth und Sibboleth. Nur durch diese Differenz in der Aussprache ließen sich die beiden Stämme identifizieren. Der interessante Punkt dieser Geschichte ist, dass nur die Leute aus Gilead von dieser Differenz zwischen den beiden Dialekten wussten, während die Ephraimiten diese Differenz nicht als Differenz wahrnahmen: nur für die einen konnte das Wort Schibboleth als Erkennungszeichen dienen. Diese Macht der Unterscheidung führte dann auch zum Tod vieler Ephraimiten. Die Logik des Schibboleth besteht darin, dass es zwei Seiten einer Sache gibt, die zweite Seite aber nur für diejenigen erkennbar ist, die diese zweite Seite konstituieren. Diese Logik ist also eine „Logik der Differenz, die nur von innen, nicht von außen verstehbar ist“ (TS, 184). Diese Logik des Schibboleth trifft – wie wir sahen – auf die Philosophie von Badiou im Ganzen zu, sodass sein Denken der ontologischen Differenz mit der grundlegenden Asymmetrie der beiden Seiten der Wirklichkeit als philosophisches Schibboleth verstanden werden kann.

Nun gibt es aber auch eine wesentliche Differenz zwischen der biblischen Erzählung und Badious philosophischem Schibboleth. Sie besteht darin, dass das Wort Schibboleth mit der entsprechenden Aussprache an ein Volk und eine Sprache gebunden ist, wohingegen das philosophische Schibboleth von Badiou zwar auch immer mit zwei entgegengesetzten, asymmetrischen Seiten funktioniert, doch jede faktische Freund-Feind-Gegenüberstellung ist nicht an eine, wie auch immer verstandene Substanz gebunden. Bei Badiou ist es potenziell jedem möglich, die Seiten zu wechseln und sich durch ein Ereignis subjektivieren zu lassen, um dadurch an der Wahrheit dieses Ereignisses teilhaben zu können. Dies impliziert allein schon Badious Begriff der Wahrheit: die Wahrheit ist universell und für alle gültig, es gibt keine partikulare Wahrheit einer Gemeinschaft oder eines Volkes.

Das Universale ist nicht die Negation der Partikularität. Es ist ein Durchmessen eines Abstandes im Verhältnis zur Partikularität, die stets bleibt. Jede Partikularität ist eine Anpassung, ein Konformismus. Es geht darum, eine Nichtkonformität mit dem, was uns stets anpasst, aufrechtzuhalten. Das Denken wird von der Konformität auf eine Probe gestellt, aus der nur das Universale es befreit – in einer ununterbrochenen Arbeit, einem erfinderischen Durchgang durch die Probe. (P, 203)

Dieser Universalismus der Wahrheit konstituiert sich nicht durch das Allgemeine der Menschenform oder den „Durchschnitt“ der Mannigfaltigkeit der Kulturen, sondern durch die Kontingenz eines Ereignisses. Die Wahrheit ist universal, weil sie ein unendlicher Prozess im Ausgang von einem Ereignis ist. Um an dieser Stelle einige Beispiele aufzuzählen, die Badiou anführt: die französische Revolution von 1792, eine persönliche Liebesleidenschaft, Haydns Erfindung des Stils der klassischen Musik (E, 62), die Tragödien von Sophokles, das Hohelied oder bestimmte politische Praktiken der Griechen. Die Wahrheit dieser Ereignisse ist von „unbezweifelbarer Universalität“, wie Badiou in Bezug auf den Satz „Die Folge der Primzahlen ist unbegrenzt.“ sagt (P, 197).

Durch diesen Universalismus und die unabschließbare Unendlichkeit des Wahrheitsprozesses ist die Wahrheit unabhängig von dem Wissen, zu dem sie in Relation steht, und den Sprachen, in denen sie sich ausdrückt. Um dieses Verhältnis zu charakterisieren spricht Badiou vom Durchqueren des Wissens und der Sprachen durch die Wahrheit. Diese Unabhängigkeit von der Sprache und der Universalismus der Wahrheit impliziert die Möglichkeit der Übertragbarkeit der Wahrheit. Das Ideal der Übertragbarkeit, mit dem sich Badiou strikt vom linguistic turn in der Philosophie absetzt, bezeichnet er als Mathem, einen Begriff den Badiou von Lacan übernimmt und den man aus dem Griechischen als „das Lehrbare“8 übersetzen kann.

Wir werden sagen, das Ideal der allgemeinen Übertragbarkeit bewahrend, dass als Ideal der Philosophie in Wirklichkeit das Mathem gesetzt werden soll. Es wendet sich an alle, es ist allgemein übertragbar, es durchquert die sprachlichen Gemeinschaften und das Heterogene der Sprachspiele, ohne irgendeins zu privilegieren, es erkennt die Vielfalt ihrer Ausübung an, ohne selbst diese Vielheit zu durchlaufen oder sich in ihr einzurichten. (PW, 23)

Ethik der Treue

Verkapselt und unscheinbar wie der Same sind im Leben des Menschen seine
wahrhaft zeugenden Erfahrungen. Was im höchsten Sinne fruchtbar ist, liegt in der
harten Schale der Unmittelbarkeit beschlossen. Nichts scheidet echte Produktivität von
fehlender, vor allem aber falscher, so deutlich wie die Frage: hat der Mann beizeiten –
im Jahrzehnt zwischen fünfzehn und fünfundzwanzig – erlebt, was ihm den Mund
verschließt, was ihn verschwiegen, wissend und bedenklich macht, was ihm Erfahrung
wurde, für die er immer zeugen und die er nie verraten, niemals ausplaudern wird.
Walter Benjamin9

In seinem zeitdiagnostischen Aufsatz Die gegenwärtige Welt und das Begehren der Philosophie hatte Badiou sich für eine Ethik ausgesprochen. Dort betont er aber auch, dass er nicht mit dem gegenwärtigen Phänomen der „Rückkehr zur Ethik“ verwechselt werden will, da sich diese „oft als gut verkäufliche Ware anbietet“ (PW, 27) und als Kompensation für deren Anpassung an den Kapitalismus und die parlamentarische Demokratie dient (PW, 29). Für Badiou geht seine „Rückkehr“ zur Ethik keineswegs mit einer Abkehr von der Politik einher, sondern steht – wie noch zu zeigen sein wird – unmittelbar mit der Situation des Politischen in Zusammenhang. Badiou begründet in diesem Text die Notwendigkeit einer Ethik durch den historischen Zusammenbruch der Kollektivsubjekte und die daraus resultierenden Gefahren. Diese Gefahren gehen in zwei Richtungen: entweder man gibt sich dem freien Fluss der stetigen Veränderung – „dem unendlichen Glitzern der Warenzirkulation“ (PW, 21) – ohne Bezugspunkt hin oder man klammert sich an Ersatztotalitäten, die das Denken für das Individuum übernehmen. Um diese beiden Gefahren der postmodernen Affirmation der „imaginären Zerstreuung“ (PW, 11) oder der Reterritorialisierung an Archaismen zu bannen, bedarf es nach Badiou einer Ethik, die Kriterien für die Unterscheidung von dem, was richtig oder falsch ist, anbietet und den Einzelnen zu einer ethischen Haltung auffordert. Durch die Veränderungen der Stellung des Individuums in Geschichte und Gesellschaft

ist jeder zu etwas berufen, was ich folgendermaßen bezeichnen werde: die Notwendigkeit, in seinem eigenen Namen vor dem Unmenschlichen zu entscheiden und zu denken. (PW, 26)

Während er in diesem Aufsatz die Notwendigkeit einer Ethik aus einer bestimmten historischen Konstellation begründet, entwickelt Badiou seine Ethik in dem gleichnamigen Buch Ethik Versuch über das Bewusstsein des Bösen aus der Systematik seiner Philosophie. Die Ethik ist für Badiou keine unabhängige philosophische Disziplin, die nach der „Ontologie“ kommt. In der Grundlegung seiner Philosophie ist die Ethik schon implizit vorhanden, obwohl er sie in Das Sein und das Ereignis (1988) nicht ausführt und sein Ethikessay (1993) später erschien. Der systematische Ort seiner Ethik ist in seiner Philosophie des Ereignisses schon in dem Moment angelegt, in dem Badiou seinen Wahrheitsbegriff durch seinen Handlungsbezug bestimmt (PW, 51) und die Konstituierung des Subjektes aus der Treue zu den Ereignissen und deren Wahrheiten hervorgehen lässt. Mit der Bestimmung des Subjektes durch die Treue ist zugleich ein ethisches Verhältnis gegeben: die Freiheit des Subjektes sich für oder gegen die Treue zu entscheiden.

Neben der historischen Begründung und der systematischen Einordnung gibt es, wie bereits angedeutet, einen dritten Zugang zu Badious Ethik. Der „anthropologische“ Ansatzpunkt besteht in einer Erfahrung, die zeigt, dass der Mensch mehr ist als ein interessegeleitetes Tier: er kann zu einem Unsterblichen werden. Diese „übermenschliche“ Dimension zeigt sich unter besonderen Umständen, in denen er „nicht mit einer Opferidentität zusammenfällt“ (E, 23), sich nicht den Situationen, seien sie auch noch so schlimm, anpasst, sondern mit seinem „Starrsinn“ zeigt, dass er „etwas anderes ist als ein Opfer“, „als ein Sein-für-den-Tod“ (E, 23). Die Figur des Unsterblichen, die Badiou aus diesen Erfahrungen ableitet, steht im Mittelpunkt seiner Ethik. Ausgangspunkt seiner Ethik sind also nicht allgemeine Bestimmungen des Menschen oder die „konsensuelle Evidenz des Bösen“ (E, 81), sondern die zentrale Frage, wie sich solch eine ethische Haltung konstituiert und diese Dimension im Menschen denken lässt.

Mit seiner Konzeption der Ethik wendet sich Badiou gegen den Mainstream der zeitgenössischen Ethiken. Seine „radikale Kritik“ (E, 112) dieser ethischen Konfiguration, deren Grundlagen und Implikationen Badiou genau bestimmt, besteht im Wesentlichen aus folgenden fünf Aspekten. 1. Diese „Ethik“ geht von dem Leiden der Menschen aus und bestimmt den Menschen als potenzielles Opfer (E, 22). 2. Sie geht nicht von einer positiven Konzeption des Guten aus, sondern definiert das Gute durch das Nicht-Böse (E, 53). 3. Es handelt sich um eine „Ethik“ des Westens, die die Anerkennung der kulturellen Differenzen nur zulässt, solange diese Differenzen nicht allzu sehr von der westlichen Kultur abweichen (E, 39). 4. Sie versucht nicht, das Böse aus seinen Entstehungsbedingungen zu denken, sondern beruft sich auf die konsensuelle Evidenz des Bösen. 5. Sie diffamiert jede „Willensabsicht, eine Gerechtigkeits- oder Gleichheitsidee in die Wirklichkeit umzusetzen“, indem sie behauptet, dass jeder „kollektive Willen zum Guten“ das Böse macht (E, 25). Für Badiou ist diese Konzeption der „Ethik“ nihilistisch, weil sie von einem „Nicht-Wollen“ (E, 51) ausgeht und den Tod allgemein ins Zentrum rückt, indem sie den Menschen als Opfer und als „Sein-für-den-Tod“ bestimmt (E, 52). Und sie ist konservativ, weil sie vor der bestehenden Ordnung resigniert und als moralischer Kitt für den Kapitalismus und die parlamentarische Demokratie dient. Diese „ethische“ Konfiguration, die er summarisch zusammenfasst, bezeichnet Badiou als „‚ethische’ Ideologie“ (E, 112). Sie ist ideologisch, weil sie ohne Wahrheit auskommt.

Diesem hegemonialen moralisch-politischen Dispositiv, für dessen philosophische Grundlegung Habermas' Konsensethik und Levinas' Ethik des Anderen die komplementären Bezugspunkte bilden, setzt Badiou seine Ethik der Wahrheiten entgegen. So wie es für Badiou kein Subjekt im Allgemeinen gibt, gibt es für ihn auch keine inhaltlich gefüllte, allgemeine Ethik. Entsprechend den vier Situationen und den diesen Situationen entsprechenden Wahrheitsprozessen, gibt es statt einer Ethik deren vier: eine Ethik der Politik, der Wissenschaft, der Kunst und eine Ethik der Liebe. Trotz der Heterogenität dieser Wahrheitsprozesse stimmen deren Ethiken in ihrer formalen Definition (E, 65) und in ihren wichtigsten Problemen überein. Unter Ethik versteht Badiou keine Aufforderung zu bestimmten Handlungsweisen, sondern die Ethiken dienen als Korrektiv: durch sie sollen die Gefahren gebannt werden, die den jeweiligen Wahrheitsprozessen innewohnen. Deshalb richtet sich die Ethik auch nicht an alle, sondern nur an diejenigen, die an einem oder mehreren Wahrheitsprozessen teilhaben. So sind z.B. die Adressaten der Ethik der Politik die politischen Akteure, die einem politischen Ereignis die Treue halten, indem sie ihre Politik der Wahrheit der gegenwärtigen Situation entgegensetzen. Die Ethik der Politik folgt und ergänzt also die Politik der Wahrheit und bekommt ihre Bedeutung erst durch die Möglichkeit, dass der Wahrheitsprozess unterbrochen wird. So wie für Badiou der Wahrheitsprozess und dessen Fortsetzung das Gute ist, so bezeichnet er die Unterbrechung eines Wahrheitsprozesses mit dem Ausdruck "das Böse". Die Aufgabe der Ethik der Wahrheiten definiert sich dann dadurch, dass sie dem Bösen entgegentritt und garantiert, dass die Wahrheitsprozesse fortgesetzt werden. Dies gilt für alle Wahrheitsprozesse, wenn auch in unterschiedlicher Weise.

Man wird ‚Ethik der Wahrheiten' im Allgemeinen das Prinzip der Fortsetzung eines Wahrheitsprozesses nennen - oder, noch genauer und komplexer, das, was der Anwesenheit von jemandem in der Komposition eines Subjekts, das den Prozess dieser Wahrheit induziert, Konsistenz verleiht. (E, 65)

Wenn Badiou an dieser Stelle von der „Fortsetzung eines Wahrheitsprozesses“ spricht, dann antwortet seine Ethik auch unmittelbar auf ein schwieriges Problem seiner Philosophie des Ereignisses: wie kann ein Ereignis, das nur einen Bruchpunkt, sei er auch noch so radikal, markiert und nur ein kontingenter Moment ist, der zwar Wirkungen zeitigt, aber keine eigene Dauer besitzt, wie kann diesem Ereignis eine Kontinuität verliehen werden? Oder anders gesagt: da das Ereignis immer schon vergangen ist und deshalb den ontologischen Status des Verschwindens hat (E, 95) und sich in den Situationen nur Spuren von deren Wahrheit finden, bedarf es für die Konstituierung des Wahrheitsprozesses eines Prinzips, um die Wahrheit des Ereignisses zu bewahren und die Zeichen in der Situation als Zeichen des Ereignisses zu erkennen. Dieses ontologische Problem, das den Begriff des Ereignisses betrifft, fällt also mit dem zentralen ethischen Problem zusammen. Dieses besteht darin, wie die Wahrheitsprozesse aufrecht gehalten werden können und wie die Teilhabe des Individuums an einem Subjekt der Wahrheit Konsistenz bekommt. Um diese Konsistenz herzustellen, reicht das momenthafte Ergriffensein durch eine Ereignis nicht aus, sondern es bedarf dazu – wie Badiou betont – einer Entscheidung:

Welcher ‚Entscheidung’ entspringt also der Wahrheitsprozess? Der Entscheidung, sich von nun an auf die Situation vom Standpunkt des ereignishaften Zusatzes aus zu beziehen. Lassen Sie uns das eine Treue nennen. Dem Ereignis treu sein, das ist das Sich-Bewegen in der Situation, die zu diesem Ereignis einen Zusatz bringt, indem man die Situation ‚gemäß’ dem Ereignis dachte (aber alles Denken ist eine Praxis, ein auf die Probe Stellen). Was natürlich dazu zwingt, eine neue Seins- und Handelnsweise in der Situation zu erfinden, da ja das Ereignis nicht innerhalb der gewöhnlichen Gesetze der Situation enthalten war. (E, 62)

Was den Wahrheitsprozess fortsetzt ist also die Treue. Wichtig ist, dass es sich bei der Treue nicht um eine Eigenschaft handelt, die zum Wahrheitsprozess hinzukommt, sondern die Treue ist der Wahrheitsprozess selbst. So ist die Treue nicht eine Forderung an die Liebenden, sondern die Liebe ist die Treue, die Treue zu dem Ereignis der Liebesbegegnung. Oder anders ausgedrückt, die Treue ist das „ungewusste“ Prinzip der Liebe (E, 67). Die Treue bildet das Prinzip der Konsistenz und des Bewahrens. Es handelt sich dabei aber nicht um eine Form der Erinnerung (KH, 182), sondern die Treue zeigt sich im gegenwärtigen Handeln und Denken. Die Treue stellt im Individuum eine Kontinuität her. Eine Kontinuität zwischen Ereignis und Individuum, wodurch sich das Subjekt konstituiert. Gleichzeitig ist die Treue zu einem Ereignis der „fortgesetzte und immanente Bruch“ (E, 91), den das Ereignis an der Situation vollzieht. Durch diesen doppelten Bezug von Kontinuität und Bruch – Kontinuität in Bezug auf das Ereignis und Bruch in Bezug auf die Situation – bestimmt sich auch das Subjekt in doppelter Weise: durch seine Treue zum Ereignis und seine Distanz zur Situation. Dieses Verhältnis von Subjekt und Ereignis fasst Badiou wie folgt zusammen.

Das Ereignis enthüllt die Leere der Situation. Denn es zeigt, dass das, was ist, ohne Wahrheit war. Ausgehend von dieser Leere konstituiert sich das Subjekt als Fragment eines Wahrheitsprozesses. Und diese Leere trennt es von der Situation oder von dem Ort, schreibt es in einen noch nie dagewesenen Weg ein. Somit stimmt es, dass der Prüfstein von der Leere, vom Ort der Leere das Subjekt einer Wahrheit bildet; aber dieser Prüfstein konstituiert keine Kontrolle. Und überdies lässt sich ganz allgemein sagen, dass eine Wahrheit von jedem beliebigen Subjekt aktiviert werden kann. Jene Erscheinung, in der das Subjekt mit der Wahrheit verknüpft wird, ist die Entscheidung, weiterhin zu sein. Treue zum Ereignis, Treue zur Leere. Das Subjekt entscheidet sich dazu, in dieser Distanz zu sich selbst, die durch die Enthüllung der Leere hervorgebracht worden ist, zu verharren. Die Leere als das eigentliche Sein des Ortes. (KH, 76)

Nun ist das Individuum, der Einzelne nicht das Subjekt. Badious Begriff des Subjektes impliziert, dass es immer eine Differenz zwischen Individuum und Subjekt gibt. Das Individuum kann an der Komposition eines Subjektes mit anderen Individuen teilhaben, aber es geht nicht in seinem Subjekt-Sein auf, da das Subjekt-Werden immer in der Überschreitung seiner selbst besteht. Durch diese Differenz stellt sich im Individuum, das ja Träger des Wahrheitsprozesses ist, ein Verhältnis zu seinem Subjekt-Werden her. Deshalb besteht das Problem der Konsistenz nicht nur in der Konstituierung des Subjektes, sondern auch in dem Verhältnis zu dieser Subjektkonstitution. Durch diesen doppelten Aspekt kann Badiou seine Ethik der Wahrheiten in einer an Kierkegaard erinnernden Formulierung dadurch bestimmen, „dass es sich für den ‚Jemanden’ darum handelt, einer Treue treu zu sein“ (E, 69). Durch die Treue konstituiert sich das Subjekt und gleichzeitig bedarf es einer Treue, die im Individuum dieser Treue die Treue hält. Erst dann stellt sich die „ethische Konsistenz“ (E, 70) her. Dazu muss der Einzelne die – wie Badiou sie benennt – „desinteressierten Interessen“ (E, 70), die sich aus der Teilhabe an einem Wahrheitsprozess ergeben, mit den Interessen seines „normalen“ Lebens verbinden. Der Einzelne hat also die Aufgabe, die Komponenten seines Selbst so zu schichten und zu komponieren, dass er sein „subjektives Prinzip“ in das „Interessenprinzip“ (E, 69) des menschlichen Tieres integrieren kann. Problematisch wird diese Arbeit an einem Selbst erst, wenn das fiktive Bild seines Selbst, das seine „Vielfach-Komposition“ (E, 76) überlagert und begleitet, sich auflöst, dadurch die Ambivalenz der Interessen zum Vorschein kommt und die Treue zur Treue infrage gestellt wird. Erst in diesem Moment tritt die Ethik als Korrektiv auf.

Badious Ethik der Wahrheiten ist also eine Ethik der Treue, eine Treue zur Treue. Diese Ethik steht entsprechend dem Prinzip der Konsistenz unter der Maxime des Weitermachens (E, 113) oder des Ausharrens. Dabei zeigt sich wiederum der doppelte Aspekt von Kontinuität und Bruch:

Die Ethik einer Wahrheit lautet also problemlos: ‚Tue alles, was du kannst, um das ausharren zu lassen, was über das Ausharren hinausgeschritten ist. Harre in der Unterbrechung aus. Ergreif in deinem Sein, was dich ergriffen und gebrochen hat.’ (E, 69)

Wenn Badiou die Treue in den Mittelpunkt seiner Ethik stellt, dann muss vor allem betont werden, dass es sich bei der Treue nicht um die Treue zu einer Person oder Sache, nicht zu einer Gemeinschaft oder Weltanschauung handelt, sondern um die Treue zu einem Ereignis. Das heißt, die Treue zu einem Ereignis ist kein despotisches Festhalten an einem früheren Geschehen, weil der durch ein Ereignis ausgelöste Wahrheitsprozess in ständigem Bezug zur gegenwärtigen Situation steht. Was aus der Treue zu einem Ereignis folgt, hängt nicht nur von den Ereignissen ab, sondern auch von den Situationen, die aus der Perspektive des Ereignisses interpretiert werden. Somit ist der Wahrheitsprozess ein offener Prozess, der den Veränderungen der Situation Rechnung trägt. Ähnliches gilt auch für das konkrete Handeln und Denken. Wie sich die ethische Haltung unter konkreten Umständen zeigt und wie sich die Treue genau ausprägt, ist nicht normativ vorgegeben, sondern hängt von zwei Aspekten ab. Einerseits ist die Teilhabe an der Subjektkomposition von der Individualität der Individuen abhängig, sodass es durch die „menschliche Vielfalt“ (E, 69) auch mannigfaltige Ausprägungen der Treue geben kann. Und andererseits entscheidet das Individuum, welche Rolle es seiner Treue zu einem Wahrheitsprozess zuerkennt und wie sich sein desinteressiertes Interesse mit seinen lebensnotwendigen Interessen komponiert.

Das Ziel von Badious Ethik der Wahrheiten besteht darin, die Fortsetzung der Wahrheitsprozesse zu gewährleisten und die Gefahren zu bannen, die der Treue zu den Wahrheitsprozessen innewohnen. Oder anders ausgedrückt, die Ethik der Wahrheiten versucht, „dem Bösen durch ihre eigene Treue zu den Wahrheiten entgegenzutreten – dem Bösen, von dem sie erkannt hat, dass es die Kehrseite oder die Schattenseite dieser Wahrheiten ist“ (E, 114).

Das Böse

Für unsere Zeit heute muß ein Denken der Wahrheit in Angriff genommen
werden, das mit der Leere verbunden ist, ohne dabei die Figur des Meisters zu
passieren. Weder den geopferten noch den hervorgerufenen Meister. (KH, 74)

Im Gegensatz zur zeitgenössischen „ethischen“ Ideologie kann man nicht von der Evidenz des Bösen ausgehen: der bestehende Konsens über das Böse ist immer prekär. Um zwischen dem Bösen und der Schlechtigkeit – oder wie man es mit Badiou auch sagen könnte: der grausamen Unschuld des Lebens – zu unterscheiden, reicht es nicht aus, einen Konsens über das, was böse ist, zu erzielen. So evident das Böse auch manchmal sein mag, die Evidenz ist immer problematisch, denn: „Seit Althusser weiß man, dass nichts weniger evident ist als die Evidenz.“10 Das Böse muss dagegen als Böses gedacht (E, 53) und dessen Konstitutionsbedingungen bestimmt werden.

Badiou nimmt im Verhältnis zur ideologischen „Ethik“ eine Umkehrung vor und schließt sich dadurch wieder an die philosophische Tradition seit Aristoteles an: Nicht das Gute muss vom Bösen her, als Vermeidung des Bösen, gedacht werden, sondern umgekehrt:

Wenn es überhaupt Böses gibt, muss es vom Guten her gedacht werden. Ohne die Beachtung des Guten und also der Wahrheiten gibt es nur die grausame Unschuld des Lebens, die diesseits des Guten und des Bösen ist. (E, 83)

Für Badiou ist das Böse keine Abwesenheit des Guten, sondern das Böse ist eine Verkehrung des Guten oder – wie er auch sagt – „eine gestörte Wirkung der Macht des Wahren“ (E, 84). Er wendet sich dabei gegen Definitionen, die wie z.B. Platons „das Böse als einfache Abwesenheit der Wahrheit“ oder „als Nicht-Wissen des Guten“ bestimmen (E, 84). Der entscheidende Punkt von Badious Konzeption des Bösen ist also die Ableitung des Bösen vom Guten: das Böse gibt es nur, weil es das Gute gibt, gäbe es das Gute nicht – und wie wir gesehen haben, bestimmt Badiou das „normale“, auf seinen Interessen beruhende Leben des Menschen als unschuldig und somit diesseits von Gut und Böse -, gäbe es auch kein Böses. Deshalb ist das Böse, wie das Gute auch, „keine Kategorie des menschlichen Tieres“, sondern „eine Kategorie des Subjektes“ (E, 90) und steht mit der anderen Dimension der Wirklichkeit in Zusammenhang. Erst durch die Überschreitung von Situationen, durch die Überschreitung der Interessen des Individuums und durch die Konstituierung des Subjektes als unsterbliche Einzigkeit lassen sich die menschlichen Handlungen als gut oder böse bezeichnen.

Innerhalb seiner Ethik der Wahrheiten unterscheidet Badiou drei Formen des Bösen. Sie leiten sich aus den drei Hauptdimensionen eines Wahrheitsprozesses ab, nämlich Ereignis, Treue des Subjektes und Wahrheit. Diese Ableitungen beschreiben die Gefahren, die sich in der Ethik der Wahrheiten aus der Bezugnahme auf ein Gutes ergeben. Die Differenzierung in drei Formen des Bösen gibt es natürlich in allen vier Bereichen der Wahrheit. Weil diese Wahrheitsprozesse heterogen sind, gibt es nur formale Übereinstimmungen in Bezug auf die drei Formen des Bösen: über diese Übereinstimmungen hinaus zeitigen sie ganz spezifische Wirkungen, die sich nicht aufeinander reduzieren lassen. Wenn im Folgenden diese drei Formen des Bösen beschrieben und bestimmt werden, können nur vereinzelte Beispiele aus den verschiedenen Bereichen herangezogen werden.

a.) Trugbild und Terror

Ein grundlegendes Problem von Badious Philosophie des Ereignisses besteht in der genauen Bestimmung der Ereignisbegriffs. Wenn Badiou ein Ereignis als immanenten Bruch, als Übergang von einer Situation in eine andere bestimmt, dann impliziert diese Definition nicht notwendigerweise, dass jeder Bruch, jede Neuheit auch schon ein Ereignis ist (E, 95). Es stellt sich also die Frage, nach welchen Kriterien sich ein „authentisches Ereignis“ (E, 99) von einem nichtauthentischen Ereignis, einem „Pseudoereignis“ (TS, 188) unterscheiden lässt und was ein Ereignis als Ereignis kennzeichnet. Um an dieser Stelle das markanteste Beispiel zu nennen: wie lässt sich das Ereignis der Oktoberrevolution von einem Pseudoereignis wie der „national-sozialistischen Revolution“ unterscheiden? Für Badiou war die Machtübernahme der Nazis zwar ein „Bruch mit der alten Ordnung“ (E, 96), aber deshalb ist sie noch kein Ereignis im Sinne Badious. Um diese Unterscheidung auch begrifflich zu markieren, führt er den Begriff des Trugbildes ein: im Gegensatz zu „wahrhaften Ereignissen“ (E, 96) gibt es Trugbilder von Ereignissen, wie z.B. die „national-sozialistische Revolution“. Trugbilder sind für Badiou die erste Form des Bösen und kennzeichnen sich dadurch, dass sie meistens Terror nach sich ziehen.

Das Böse ist der Prozess eines Trugbildes der Wahrheit. Und es ist wesentlich Terror gegenüber allen unter einem von ihm erfundenen Namen. (E, 102)

Die Schwierigkeit, zwischen echten Ereignissen und deren Trugbild zu unterscheiden, beruht auf zahlreichen Übereinstimmungen zwischen beiden Modi. (Diese Übereinstimmungen hatten auch dazu geführt, dass „Heidegger eine ganze Weile von einem Trugbild eingenommen wurde. Er glaubte, es mit dem Ereignis seines eigenen Denkens zu tun zu haben.“ E, 117) Es handelt sich nach Badiou um formale Übereinstimmungen. In Bezug auf unser Beispiel aus dem Bereich der Politik nennt er folgende Übereinstimmungen: „der Bruch der alten Ordnung, die Unterstützung, die man durch Massenversammlungen erwartet, der diktatorische Stil des Staates, das Pathos der Entscheidung, die Verherrlichung des Arbeiters“ (E, 96) und die „Verpflichtung zu einer Treue“ (E, 97).

Diese formalen Übereinstimmungen hatten immer wieder dazu geführt, sowohl die „national-sozialistische Revolution“ als Wiederholung der Oktoberrevolution zu betrachten als auch Faschismus und Stalinismus gleichzusetzen. Badious Theorie des Bösen bietet im Gegensatz zu den Totalitarismustheorien die Möglichkeit, genau zwischen beiden Politiken zu unterscheiden. So handelt es sich bei der Oktoberrevolution um ein echtes Ereignis und beim Stalinismus um einen Totalitarismus, der nicht der ersten Form, sondern der dritten Form des Bösen zugeordnet wird. Und bei der „national-sozialistischen Revolution“ handelt es sich um eine Wiederholung der Oktoberrevolution in dem Sinne, dass sie die Benennungen „Sozialismus“ und „Revolution“ aufgreift und auf sie anspielt, ohne deren Wahrheit, den „Klassenkampf“ (TS, 190) zu wieder-holen. Stattdessen werden die Klassengegensätze durch rassistische Gegensätze, von Deutschen und Juden, von Ariern und Nicht-Deutschen ersetzt. Durch diese wieder-holende Verschiebung auf der inhaltlichen Ebene entsteht ein Trugbild eines Ereignisses.

Jenseits der formalen Übereinstimmungen gibt es also inhaltliche Differenzen zwischen einem Ereignis und einem Trugbild. Die beiden wichtigsten sind: zum einen impliziert Badious Begriff der Wahrheit, dass sie sich an alle wendet: es gibt keine Wahrheit einer Partikularität, sondern nur universelle Wahrheiten. Und zum anderen bezieht sich das Ereignis auf die Leere einer Situation und nicht auf ein Element der Situation, wie es z.B. die Bezugnahme auf das deutsche Volk wäre. Diese beiden Aspekte bilden die eng miteinander zusammenhängenden Kriterien für die Unterscheidung von Ereignissen und Trugbildern.

Was bewirkt, dass ein wahrhaftes Ereignis am Ursprung einer Wahrheit, der einzigen Sache, die für alle da und ewig ist, sein kann, ist eben, dass es mit der Besonderheit einer Situation nur indirekt über seine Leere verknüpft ist. Die Leere, das Vielfache-von-Nichts, schließt niemanden aus noch zwingt es ihn. Es ist die absolute Neutralität des Seins, derart, dass die Treue, an deren Ursprung ein Ereignis steht, obgleich sie ein immanenter Bruch in einer einzigartigen Situation ist, sich nichtsdestoweniger an alle richtet. (E, 96)

Konkret heißt das, dass die Leere der Situation erst einmal erreicht, freigelegt werden muß. Geschieht dies bei einem Bruch nicht, entsteht ein Trugbild eines Ereignisses. Dieses Nicht-Erreichen der Leere und ein Element der Situation zur „Wahrheit“ der Situation zu machen, zeigt sich in dem nationalsozialistischen Bruch mit den bestehenden Verhältnissen, in der Beschränkung der „Wahrheit“ auf das deutsche Volk und der Einsetzung des „Juden“ als diskursive Funktion, als „abstrakte Universale“ (E, 100). So kehrt das Universelle als Negation des Substantiellen, in Form des Nicht-Deutschen wieder. Welcher Terror daraus folgte, ist ja hinlänglich bekannt. Badiou betont, dass es sich bei diesem Terror nicht um politischen Terror, d.h. Terror gegen die politischen Feinde, sondern um substanziellen Terror handelt, der den Tod – oder dessen „aufgeschobene Form“: die „Versklavung“ (E, 98) – zum universellen Prinzip für alle Nicht-Deutschen macht: „damit die Substanz sein kann“, darf „nichts sein“ (E, 101), was nicht zur Substanz gehört. Dadurch wird jeder Einzelne auf sein „Sein-zum-Tod“ (E, S.101) oder, wie Agamben sagen würde, auf „das nackte Leben“11 reduziert.

Diese Form des Bösen als Trugbild des Ereignisses und der damit verbundenen Entäußerung der Treue als Terror gilt natürlich nicht nur für die politischen Wahrheitsprozesse. Auch in den Bereichen der Wissenschaft, Kunst und Liebe gibt es diese Gefahr der Verkehrung ins Böse, die durch die Ethik gebannt werden soll. So schreibt Badiou in Bezug auf den Wahrheitsprozess der Liebe:

So kann man einsehen, dass gewisse sexuelle Leidenschaften Trugbilder des Liebes-Ereignisses sind. Dass sie in dieser Eigenschaft Terror und Gewalt nach sich ziehen, steht außer Zweifel. (E, 101)

b.) Verrat

Jeder Wahrheitsprozess hat, wie wir gesehen haben, drei Dimensionen. Der Wahrheitsprozess im Ganzen beruht darauf, dass es die Treue des Subjektes gibt: ohne Subjekte gäbe es keinen Ort, an dem sich das Ereignis bewahren könnte, und keinen Träger der Wahrheit, der die Wahrheit eines Ereignisses bezeugen könnte. Diese Treue ist nicht nur die Treue zur Wahrheit eines Ereignisses, sondern auch die Treue zu sich selbst. Einer Treue zum Ergriffensein durch ein Ereignis. Somit impliziert diese Treue ein Selbstverhältnis, ein Verhältnis des Einzelnen zu sich selbst, zu seinem Subjekt-Werden. Dieses Selbstverhältnis markiert die zweite Dimension des Wahrheitsprozesses und impliziert durch die Verkehrung des Guten die zweite Form des Bösen. Badiou benennt dieses Böse – in Übereinstimmung mit dem üblichen Sprachgebrauch – als Verrat. In seiner Bestimmung dieser Form des Bösen stellt er nicht den Verrat an der Wahrheit in den Mittelpunkt, sondern den Verrat an sich selbst: denn „von einer Treue abfallen ist das Böse als Verrat an seinem eigenen Selbst als Unsterblicher, der man ist“ (E, 95).

Der Verrat als Abkehr von der Treue wird möglich, weil das „Subjekt-Werden“ (E, 102) des Individuums immer prekär ist. Zum einen gibt es durch den ontologischen Status des Ereignisses, seines Verschwunden-Seins eine „Ungewissheit der Treue“ (E, 94), zum anderen hat der Einzelne die nicht immer einfache Aufgabe, das desinteressierte Interesse der Wahrheit mit den Interessen seines eigenen Lebens zu verbinden, und außerdem ist das Subjekt immer wieder der Macht der Meinungen ausgesetzt, gegen die es seine Wahrheit behaupten muss. Durch diese vielfältigen Schwierigkeiten kann es zu einer Krise des Subjektes kommen, in welchem Bereich der Wahrheit es auch immer sei.

Alle Welt kennt die Augenblicke der Krise eines Liebhabers, der Entmutigung eines Forschers, der Erschöpfung eines Aktivisten, der Sterilität eines Künstlers. Oder auch des anhaltenden Unverständnisses gegenüber einem mathematischen Beweis auf der Seite des Leser, der sich nicht auflösen wollenden Dunkelheit eines Gedichtes, dessen Schönheit man jedoch vage wahrnimmt, usw. (E, 102)


Die Krise kennzeichnet sich dadurch, dass das Subjekt weiterhin unter der Maxime des „Weitermachens“ steht, aber gleichzeitig das Bild verschwunden ist, das der Einzelne durch seine Teilhabe an einem Wahrheitsprozess und deren Integration in sein Leben konstituiert hat. Es entsteht also in der Krise eine Diskrepanz zwischen dem Bild seiner Selbst, das die Teilhabe an einem Wahrheitsprozess begleitet, und der Aufforderung des Unsterblichen in ihm, den Wahrheitsprozess fortzusetzen (E, 103). Diese Differenz kennzeichnet die Erfahrung der Krise, die Badiou wie folgt beschreibt:

Eine Krise der Treue ist immer etwas, was die einzige Maxime der Konsistenz, also der Ethik des ‚Weitermachen!’ durch die Abwesenheit eines Bildes auf die Probe stellt. Weitermachen, selbst dann, wenn man die Spur verloren hat, man sich nicht mehr von dem Prozess ‚eingenommen’ fühlt, das Ereignis selbst dunkel geworden ist, sein Name sich verloren hat oder man sich fragt, ob es nicht der Name eines Irrtums, ja ein Trugbild, war. (E, 103)

Wichtig bei diesem Moment der Krise ist, dass alle Dimensionen des Wahrheitsprozesses von diesen Zweifeln betroffen werden, obwohl sie sich in der zweiten Dimension konstituieren. Das sich in der Krise befindende Subjekt stellt den Wahrheitsprozess, durch den es sich selbst konstituiert hat, selbst infrage: dass das Ereignis, auf das es sich beruft, nur ein Trugbild sei und dass die Macht, die es auf sich selbst ausübt, Terror sei (E, 103).

Diese Krise kann nun zu einem Verrat des Einzelnen an einem Wahrheitsprozess führen – und das heißt, wie bereits gesagt, gleichzeitig auch an sich selbst, an seinem eigenen Selbst, weil der Verrat immer eine doppelter ist: an der Wahrheit des Ereignisses und an seiner Subjektivierung durch das Ereignis. Als Beispiel für „die Versuchung nachzugeben, sich von der subjektiven Komposition zurückzuziehen“ (E, 77) lassen sich folgende anführen:

eine Liebe zu zerstören, weil sich ein obszönes Begehren aufdrängt, eine politische Linie zu verraten, weil sich das Ausruhen im ‚Dienst an den Gütern’ anbietet, den wissenschaftlichen Eifer durch den Wettlauf nach Glaubwürdigkeit und Ehren ersetzen oder gar in den Akademismus unter dem Schutz der Propaganda, die den ‚überholten’ Charakter der Avantgarden anprangert, zurückzufallen. (E, 77)


Bei diesem Verrat findet wieder die doppelte Bewegung von Bruch und Kontinuität statt, aber nun umgekehrt. Auf der einen Seite wird die Kontinuität des Wahrheitsprozesses gebrochen und auf der anderen Seite gibt es eine Wiederherstellung mit der Kontinuität der Situation und der Meinungen. Doch diese Wiederherstellung kann keine Rückkehr zu dem Zustand vor der Induzierung des Wahrheitsprozesses sein. Wie Badiou sagt: der „Verrat ist kein bloßer Verzicht.“ (E, 103). Das Ereignis hat stattgefunden, es hat eine Treue des Subjektes gegeben und man hat mit der Wahrheit des Ereignisses gelebt: all dies lässt sich nicht einfach auslöschen. Der Verrat ist ja nicht nichts, er ist ja keine Abwesenheit der Treue, sondern immer Verrat von etwas und an sich selbst. Treue und Verrat hinterlassen Spuren, die immer noch wirken. Dadurch erklärt sich auch, warum der Verrat an einer Wahrheit zur Folge hat, dass man zum Feind der Wahrheit wird, an die man geglaubt hat. Aus diesem Grund kann Badiou auch sagen, dass der Verrat ein Böses ist, „von dem man sich nicht erholt“ (E, 104).

c.) Desaster der Wahrheit

Wie bereits mehrfach erwähnt, besteht ein immanenter Zusammenhang zwischen den Dimensionen des Wahrheitsprozesses – dem kontingenten Ereignis, dem endlichen Subjekt und der unendlichen Wahrheit. Fehlt eine dieser Dimensionen könnte sich der Wahrheitsprozess – und d.h. auch das Gute – als solches nicht konstituieren. Während sich das Gute in dem gleichzeitigen Vorhandensein aller drei Dimensionen zeigt, teilt sich das Böse in drei zu differenzierenden Formen: das Böse statt des Guten, das Böse nach dem Guten und das Böse mit dem Guten. So lassen sich die drei Formen des Bösen als stufenweise Steigerung der Verquickung des Bösen mit dem Guten verstehen. Beim Trugbild ist es die Verwechslung mit dem wahren Ereignis – von daher ist die erste Form des Bösen von Anfang an „böse“. Dagegen hat es bei der zweiten Form des Bösen das Gute vorher schon gegeben, erst danach findet eine Verkehrung vom Guten zum Bösen statt: Verrat kann es nur dann geben, wenn es vorher eine Treue des Subjektes gegeben hat. Bei der dritten Form des Bösen handelt es sich um ein Böses, das dem Guten selbst eingeschrieben ist: es handelt sich um die Identifizierung der „Wahrheit mit einer totalen Macht“ (E, 95). Badiou bezeichnet diese Form des Bösen als „Desaster der Wahrheit“ (E, 110). Die Verabsolutierung der Wahrheit, die zu einer Übersteigerung des Guten und das heißt zum Bösen führt, ist eng mit der Sprache verknüpft.

Entsprechend den beiden Seiten der Wirklichkeit unterscheidet Badiou auch zwischen zwei Sprachen: zwischen der situativen Sprache und der Subjekt-Sprache. Die situative Sprache ist die „pragmatische Möglichkeit“, die in einer Situation „zusammenkommenden Elemente zu benennen und über sie Meinungen auszutauschen“ (E, 106). Meinungen sind für Badiou „Vorstellungen ohne Wahrheit, die anarchischen Überbleibsel des geläufigen Wissens“ (E, 72), und dienen dazu, die Kommunikation zwischen den Individuen aufrecht zu halten. Im Gegensatz zu dieser auf Kommunikation beruhenden Sprache bezieht sich die Subjekt-Sprache nicht auf Meinungen, sondern auf Wahrheit. Doch wie die beiden Seiten der Wirklichkeit und der sie ausdrückenden Begriffe – wie z.B. Ereignis und Situation – nicht voneinander getrennt gedacht werden können, so stellt sich auch zwischen beiden Sprachen ein immanenter Zusammenhang her. Denn es gibt keine Wahrheit außerhalb der Situation: jede Wahrheit ist die Wahrheit einer Situation und gehört nur zu ihr. Wie die Meinung bezieht sie sich auf Elemente der Situation und greift dabei die situative Sprache auf, um die Elemente der Situation zu benennen. Im Unterschied zur Meinung wird beim Wahrheitsprozess die Situation aus der Perspektive des Ereignisses betrachtet und gleichzeitig transformiert sich die situative Sprache in eine Subjekt-Sprache, die Bedeutung nur für diejenigen Individuen hat, die an diesem Wahrheitsprozess teilhaben.

Jede Wahrheit hat auch mit den Elementen der Situation zu tun, da ihr Prozess nichts anderes ist, als sie vom in der Perspektive des Ereignisses aus zu prüfen. In diesem Sinn gibt es eine Identifizierung dieser Elemente durch den Wahrheitsprozess, und da es sich um jemand handelt, der an der Komposition eines Wahrheitssubjektes teilhat, ist es gewiss, dass er zu dieser Identifizierung beitragen wird, indem er die situative Sprache gebraucht, die er als ‚Jemand’ wie jedermann praktiziert. Von diesem Standpunkt aus durchquert der Wahrheitsprozess die situative Sprache auf die gleiche Weise, wie er alle Kenntnisse durchquert. (E, 106)

Die Subjekt-Sprache konstituiert sich dadurch, dass sie die situative Sprache aufgreift, um die Situation aus der Perspektive des Ereignisses zu überprüfen und deren Wahrheit in die Sprache einzuschreiben. Dadurch entstehen – entsprechend den vier Wahrheitsbereichen – die Sprachen des Aktivisten, der Forscher, der Künstler und der Liebenden. Wichtig bei dieser Unterscheidung von Subjekt-Sprache und situativer Sprache ist, dass die Subjekt-Sprache „ein ganz alltägliches Aussehen haben“ kann (E, 107) (wie z.B. die Äußerung „Ich liebe dich“ bei einer Liebeserklärung), während sich gleichzeitig zwischen den Subjekten (den Liebenden) eine Subjekt-Sprache konstituiert, deren „Macht in der Situation völlig losgelöst“ ist „vom gemeinen Gebrauch derselben Worte“ (E, 107). Hier zeigt sich, wie schon in der biblischen Erzählung, die Bedeutung der Sprache für die Logik des Schibboleths.

Es gibt also einen immanenten Zusammenhang von Macht und Wahrheit. Durch die Subjekt-Sprache ist das Einschreiben einer Wahrheit in die situative Sprache möglich. Die Wahrheit hat die Macht, die Meinungen zu verändern, ohne dass diese selbst wahr werden könnten (E, 105). Im Unterschied zur situativen Sprache impliziert die Subjekt-Sprache eine Kohärenz, wodurch es möglich scheint, „alle Elemente der objektiven Sprache im Ausgang vom Wahrheitsprozess zu benennen und zu bewerten“ und „die Totalität der objektiven Situation in die besondere Kohärenz einer subjektiven Wahrheit“ (E, 108) einzuordnen. Für Badiou impliziert also die positive Möglichkeit, die Meinungen durch die Wahrheit zu verändern und die objektiven Situationen aus der Perspektive von deren Wahrheit zu überprüfen, die Gefahr, dass diese Macht der Wahrheit umschlägt und zu einer totalen Macht wird. Der Dogmatismus der Wahrheit und das Erstarren der Subjekt-Sprache sind die deutlichsten Anzeichen dieser totalen Macht. Welche Folgen diese Verknüpfung von Macht und Wahrheit haben kann, hat sich in der Geschichte ja hinlänglich gezeigt.

Die Totalisierung der Wahrheit betrifft nicht nur ihr Anderes, sondern auch den Wahrheitsprozess selbst: die Totalisierung der Wahrheit führt zu einer Unterbrechung des eigenen Wahrheitsprozesses und zwar auf drei Ebenen. 1. Die Spannung in der Komposition des Individuums zwischen den lebensnotwendigen Interessen und den desinteressierten Interessen, die sich aus der Treue zu einem Wahrheitsprozess ableiten, wird einseitig zugunsten der Wahrheit aufgelöst. Damit wird auch „das menschliche Tier“ ruiniert, das ja Träger dieser Wahrheit ist. 2. Es werden durch den Dogmatismus Veränderungen der Wirklichkeit nicht mehr wahrgenommen und diese nicht in das eigene Denken integriert. 3. Die grundsätzlichen Differenzen zwischen Ereignis und Situation, Wahrheit und Wissen, Subjekt-Sprache und situativer Sprache werden eingezogen: so hat z.B. die Totalisierung der Wahrheit das Ziel, die Meinung zu vernichten (E, 108).

Was sich hier also zeigt, ist die Bedeutung, die die ontologische Differenz für die politische Theorie bekommen kann. Für Badiou bedeutet die ontologische Differenz zuallererst, dass es keine Totalität des Seienden geben kann. Die ontologische Differenz garantiert, dass es immer ein Spannungsverhältnis zwischen den zwei Seiten der Wirklichkeit und den sie explizierenden Begriffen gibt. Aus der Perspektive der ontologischen Differenz gibt es zwei Möglichkeiten der Totalisierung. Zum einen die positive Totalität: die eine Seite der Wirklichkeit wird entsprechend dem philosophischen Schibboleth ignoriert und die Wirklichkeit reduziert sich auf die Totalität des Gegebenen. Zum anderen die hier beschriebene Totalität der Wahrheit: aus einem Wahrheitsprozess wird ein starres, dogmatisches System gemacht, das alle positiv gegebenen Elemente in dieses System einordnet. Bei beiden Totalisierungen wird die ontologische Differenz als solche eingezogen. Aus Badious ethischer Perspektive heißt das: entweder gibt es das Gute nur als Nicht-Böses oder das Gute verkehrt sich zum Bösen. Diese Gefahr der Verabsolutierung des Guten versucht Badiou zu bannen, indem er dem Guten eine Selbstbeschränkung auferlegt.

Das Gute ist das Gute nur insofern, als es nicht vorgibt, die Welt zum Guten zu wenden. Ihr einziges Sein ist die Herankunft als Situation einer einzigartigen Wahrheit. Es ist also nötig, dass die Macht einer Wahrheit auch eine Ohnmacht ist. (E, 103)

Um dieser Ohnmacht der Wahrheit auch Raum zu geben und um der Totalisierung der Wahrheit deren Detotalisierung entgegenzusetzen, spricht Badiou mit Mallarmé vom „beschränkten Handeln“ (PW, 62). Durch diese Formel soll die Offenheit des Wahrheitsprozesses garantiert und die Differenz von Wahrheit und Meinung aufrecht gehalten werden. Diese politische Selbstbeschränkung wird von Badiou auch ontologisch begründet. Die Totalisierung der Wahrheit ist politisch nicht nur gefährlich, sondern ontologisch auch gar nicht möglich. Dies impliziert schon die ontologische Differenz. Für Badiou gibt es in jedem Wahrheitsprozess etwas Unnennbares, das Teil des Wahrheitsprozesses ist, sich aber gleichwohl der Macht der Wahrheit entzieht. Für die Liebe ist es die sexuelle Lust, für das Gedicht die Macht der Sprache (KH, 39), für die Mathematik die Konsistenz und für die Politik ist es die Gemeinschaft (E, 112). Diese Unnennbarkeiten sind „unnennbar für die Subjekt-Sprache“ (E, 111). Werden sie dennoch benannt, dann findet ein Übergang von der Subjekt-Sprache zur Meinung statt und dadurch verliert sie ihren Bezug zur Wahrheit. Die Totalisierung der Wahrheit impliziert also „um jeden Preis die Benennung erzwingen zu wollen“ (E, 112). Dies ist die dritte Form des Bösen als Desaster der Wahrheit und kann in allen vier Wahrheitsbereichen stattfinden.

Die Gefahr der Totalisierung der Wahrheit, die es ja auch in der Philosophie geben kann, wird in der Philosophie Badious schon in ihrer Grundlegung durch zwei Aspekte gebannt. Zum einen gibt es für Badiou nicht nur eine Wahrheit, sondern vier Wahrheiten. Jede der vier Bedingungen der Philosophie hat ihre eigene Wahrheit. Durch die Heterogenität der Wahrheitsprozesse ist es nicht mehr möglich, einen Bereich des Denkens auf einen anderen zu reduzieren (z.B. Liebe auf Politik) und die Totalität einer Wahrheit herzustellen. Zum anderen erhebt Badiou jede der vier Bedingungen der Philosophie zu eigenständigen Denkformen, wodurch sich eine gewisse Distanz zwischen den Bedingungen – z.B. dem politischen Denken und der Philosophie – herstellt. Dadurch wird verhindert, dass sich die Philosophie mit einer ihrer Bedingungen vernäht12 und sich eine philosophisch-wissenschaftliche (wie der Positivismus) oder eine philosophisch-politische Totalität (wie der Marxismus) konstituiert. Die Idee einer Verwirklichung bzw. Aufhebung der Philosophie in der Wirklichkeit lehnt Badiou nicht nur ab, sondern sie wird durch seine Konzeption von Philosophie schon von vornherein ausgeschlossen.

Zum Ende noch ein Zitat von Badiou, in dem angedeutet wird, welche „Tugenden“ die Ethik der Wahrheiten bedarf, damit die Wahrheitsprozesse nicht unterbrochen werden und der Einzelne sein „Weitermachen“ nicht aufgibt. Aus den drei Arten des Bösen – Trugbild, Verrat und Desaster – lassen sich drei entsprechende Tugenden ableiten. Sie sollen verhindern, dass man weder glaubt, „dass die Macht einer Wahrheit total“ ist, noch „einer Wahrheit aus dem Wege“ geht und auch kein „unbeugsamer Anhänger eines falschen Ereignisses“ wird (E, S.113).

Die Ethik verbindet also unter dem Imperativ ‚Weitermachen!’ eine Quelle des Unterscheidens (sich nicht von den Trugbildern einnehmen zu lassen), des Muts (nicht nachzugeben) und der Zurückhaltung (sich nicht den Extremen der Totalität hinzugeben). (E, 114)

Somit wird deutlich, dass es Badiou nicht darum geht, „gegen ein äußeres und radikales Böses zu streiten“ (E, S.114). Das Böse ist eine immanente Möglichkeit, die den Wahrheitsprozessen selbst innewohnt. Das Böse ist „die Kehrseite oder die Schattenseite“ (E, 114) der Wahrheiten. Mit seiner Ethik versucht Badiou „dem Bösen durch ihre eigene Treue zu den Wahrheiten entgegenzutreten“ (E, 114) und die Gefahren zu bannen, die sich aus dem Eintreten für eine Wahrheit ergeben können: damit der Kampf für ein Gutes sich nicht in ihr Gegenteil verkehrt und damit die Möglichkeit dieser Verkehrung nicht dazu führt, den Kampf für eine Wahrheit zu unterlassen.

 
 
Anmerkungen

1
Ricoeur 1989, 66.
2 Vgl. die Sigelliste in der Bibliographie.
3 Neske, Kettering 1988, 99.
4 Zitiert nach GT, 25.
5 Vgl. dazu neuerdings Habermas 2001.
6 Dem Übersetzer dieses Textes, Jürgen Brankel, sei an dieser Stelle Dank ausgesprochen für die freundliche Überlassung seines Manuskriptes vor dessen Veröffentlichung.
7 Übersetzung in Zizek 2001, 177.
8 Vgl. Lipowatz 1982, 138f.
9 Benjamin 1980, 275.
10 Zupancic 2001, 56.
11 Agamben 2002, 18.
12 Vgl. dazu Badiou 1997, 51-61.

Literatur

Agamben, Giorgio: Homo sacer. Die souveräne Macht und das nackte Leben. Frankfurt am Main 2002.

Badiou, Alain: Paulus. Die Begründung des Universalismus. (P) München 2002.

Badiou, Alain: L'être et l'événement. (EE) Paris 1988.

Badiou, Alain: Manifest für die Philosophie. (MP) Wien 1997.

Badiou, Alain: Die gegenwärtige Welt und das Begehren der Philosophie. Aus: Badiou, Alain; Rancière, Jacques; Riha, Rado u.a. (Hrsg.): Politik der Wahrheit. (PW) Wien 1997, 9-30.

Badiou, Alain: Lacans Herausforderung der Philosophie. Aus: Badiou, Alain; Rancière, Jacques; Riha, Rado u.a. (Hrsg.): Politik der Wahrheit. (PW) Wien 1997, 46-53.

Badiou, Alain: Wahrheiten und Gerechtigkeit. Aus: Badiou, Alain; Rancière, Jacques; Riha, Rado u.a. (Hrsg.): Politik der Wahrheit. (PW) Wien 1997, 54-63.

Badiou, Alain: Gott ist tot. Kurze Abhandlung über eine Ontologie des Übergangs. (GT) Wien 2002.

Badiou, Alain: Kleines Handbuch der In-Ästhetik. (KH) Wien 2001.

Badiou, Alain: Ethik. Versuch über das Bewußtsein vom Bösen. (E) Wien 2003.

Benjamin, Walter: Theologische Kritik. Zu Willy Haas, „Gestalten der Zeit“. Aus: Gesammelte Schriften. Band III. Frankfurt am Main 1980.

Habermas, Jürgen: Glauben und Wissen. Friedenspreis des deutschen Buchhandels. Frankfurt am Main 2001.

Lipowatz, Thanos: Die vier Diskurse. Aus: Hombach, Dieter (Hrsg.): Mit Lacan. ZETA 02. Berlin 1982, 137-154.

Neske, Günther; Kettering, Emil (Hrsg.): Antwort. Martin Heidegger im Gespräch. Tübingen 1988.

Ricoeur, Paul: Der Skandal des Bösen. In: Lettre, Jg. 1989, H. 5, 66-67.

Zizek, Slavoj: Die Tücke des Subjekts. (TS) Frankfurt am Main 2001.

Zupancic, Alenka: Das Reale einer Illusion. Frankfurt am Main 2001.

 
 
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Erstveröffentlichung des Textes in: Plurale. Zeitschrift für Denkversionen, Nr. 3.

 
 

 

Wilhelm Roskamm