"Multitude ist ein organisatorisches Projekt"

Ein Interview mit Michael Hardt

[Dies ist ein Interview, das ich mit Michael Hardt im Oktober 2006 am Telefon geführt habe. Es war für eine Ausgabe des Greenpepper-Magazins vorgesehen. Ich kann seit einiger Zeit niemanden bei Greenpepper erreichen, und ich weiß nicht, ob die Ausgabe erschienen ist. Da ich möchte, daß dieser Text gelesen wird, anstatt auf meiner Festplatte zu versauern, habe ich mich dazu entschlossen, ihn per Mail zu verbreiten. Tut euch keinen Zwang an und verbreitet ihn weiter.

Viele der Fragen sind das Ergebnis einer laufenden Diskussion mit Freunden und Genossen in dem E-Mail-Verteiler aut-op-sy und anderswo. Einige von uns hatten an einem früheren, per Mail geführten Interview mit Hardt teilgenommen. Weil die Fragen aus laufenden Diskussionen stammen, von denen einige ein Jahr oder mehr andauerten, und weil das Interview vor über 1 1/2 Jahren geführt wurde, erinnere ich mich nicht mehr genau daran, wer alles die Fragen formuliert oder anderweitig seine Hände mit im Spiel hatte. Unter ihnen kann ich mit Sicherheit Angela Mitropolous, Thiago Oppermann und Gavin von Greenpepper nennen.
Nate Holdren]

Frage: Könnten Sie mit einer kurzen Einführung in die Idee der “Multitude” beginnen, für diejenigen, die möglicherweise damit nicht vertraut sind?

Hardt: Ich drücke Sachverhalte gern in Formeln aus, die Formel lautet hier: “Multitude ist gleich Singularität plus Kooperation” – oder Autonomie plus Assoziation. Das ist natürlich eine Rückbesinnung auf den Slogan von Lenin, daß “Kommunismus gleich Sowjetmacht plus Elektrifizierung” sei.
Das Thema der Multitude ist für uns dazu da, eine Form der politischen Organisation und des sozialen Lebens zu denken, die auf einem Verhältnis von Differenzen beruht – eine, die Differenzen, Kooperation und Assoziation nicht ausschließt. Man kann an ältere politische Slogans aus den USA denken, ich glaube es war Audre Lord, die sagte: “Unsere Differenzen sind unsere Stärke.” Oder ein anderer: “Wir wollen keine Welt ohne sexuelle Differenz, wir wollen eine, in der sexuelle Differenz nichts ausmacht.” Ich habe verschiedene Definitionen dafür gegeben, manchmal ökonomische oder philosophische. Dies ist eine politische.

Frage: Es gibt in Ihrem letzten Buch mit Negri das Argument, daß Demokratie ein unvollendetes Projekt ist und daß es die Bestimmung der “Multitude” ist, “reale” und absolute Demokratie durch die Verwerfung der gegenwärtigen “unauthentischen” Verwendung des Konzepts zu verwirklichen (materialise). Ist diese demokratische These nicht eher eine Art und Weise, nach angemesseneren und einschließenderen Formen der Repräsentation zu verlangen, anstatt Räume zu öffnen, in denen die Möglichkeit ausgekundschaftet wird, jenseits der Repräsentation selbst zu gelangen? Besteht nicht die Möglichkeit, daß das teleologische Projekt der Verwirklichung von “wahrer” Demokratie und ihrer authentischen Anwendung als Prinzip weit offenere Experimente zugunsten anderer, nicht-repräsentationaler politischer Formen oder Arten des Zusammenkommens unterdrücken kann?

Hardt: Ich kann verstehen, warum Sie den Begriff der Demokratie aufgeben möchten. George Bush redet im Fernsehen darüber, in den Krieg zu ziehen, um die Demokratie zu schützen und wiederherzustellen. Deshalb kann ich verstehen, warum Sie sagen möchten: “Laßt uns dieses Wort nicht mehr gebrauchen.” Andererseits ist es möglich, darum zu kämpfen, was dieses Konzept bedeutet. Was heißt, nicht zu einer vorher bestehenden Bedeutung zurückzukehren, sondern über eine mögliche Bedeutung nachzudenken. Wir können dafür kämpfen, es etwas anderes bedeuten zu lassen als die Formen von repräsentativer Demokratie, die wir heutzutage haben. Und zwar, indem man sagt: “Nein, das ist nicht der Fall, das ist nicht das, was Bush tut, das ist nicht Demokratie in dem Sinne, wie wir sie verstehen.”

Frage: Sagen Sie damit, daß Sie die Verbindung zwischen Repräsentation und Demokratie unterbrechen wollen?

Hardt: Ja, ich würde diese Verbindung sowohl theoretisch als auch durch historische Untersuchungen darüber unterbrechen wollen, wie das Wort zu unterschiedlichen Zeiten benutzt wurde – bevor die Verbindung zwischen Demokratie und Repräsentation historisch konstruiert wurde, als auch durch Experimente in der heutigen Praxis.
Ich glaube nicht, daß Demokratie oder absolute Demokratie als unterdrückend verstanden werden muß. Ich glaube, daß sie ein Begriff für die Aktivitäten sein kann, über die Sie gesprochen haben, Aktivitäten, bei denen Sie befürchten, daß sie unterdrückt werden könnten. Ich möchte außerdem sagen, daß ich nicht glaube, daß das eine das andere ausschließt – wir können darauf bestehen, daß repräsentative Institutionen heutzutage ihren Anspruch erfüllen, uns gleichzeitig in irgendeiner Weise mit den Strukturen der repräsentativen Formen von Demokratie auseinandersetzen und ebenso Formen der nicht-repräsentativen Demokratie ausprobieren.

Frage: In Grammatik der Multitude spricht Paolo Virno über die Marxschen Beschreibungen der Arbeiterklasse an der Grenze der USA und er behauptet, daß wir hier die Errichtung der Arbeiterklasse in der Form der Multitude sehen können. Aber die Idee von der “noch nicht Multitude”, die Negri und Sie vorschlagen, impliziert, daß dieser Typ der Errichtung bisher noch niemals aufgetreten ist. Können Sie einige der Differenzen zwischen Ihrer Arbeit und der von Paolo Virno in dieser Hinsicht auffächern?

Hardt: Ich glaube nicht, daß Toni und ich hier wirklich anderer Meinung als Paolo sind. In seiner Einleitung zur Grammatik der Multitude versucht Sylvère Lotringer wohl zu behaupten, daß wir es seien, aber ich glaube nicht, daß wir es sind. Wir benutzen den Begriff – und mit “wir” meine ich nicht nur Toni und mich, weil es viele von uns gibt, die die Idee der Multitude benutzen – und wir benutzen ihn manchmal auf selbstwidersprüchliche Weise. Ich denke nicht, daß Selbstwiderspruch immer eine schlechte Sache ist, solange er produktiv ist. Wir benutzen den Begriff häufig auf unterschiedliche Art und Weise, um politische Möglichkeiten in der Vergangenheit zu lesen – so, wenn Paolo über Marx spricht, der wiederum über die Grenze der USA in den Texten zur ursprünglichen Akkumulation spricht. Wir könnten gewissermaßen sagen, daß die Multitude schon früher existiert hat, aber in einer anderen Weise. Eine andere Möglichkeit, das Wort zu benutzen, ist in der Bedeutung eines Projekts, das bisher noch nicht umgesetzt wurde, aber das realisiert werden könnte. Das ist es, was wir mit “noch nicht Multitude” meinen. Wir können die Geschichte und frühere Kämpfe als Präzedenzfälle und als Inspiration, aber nicht zur Wiederholung lesen. Wir möchten nicht einfach etwas tun, was vorher getan wurde, oder zu einem früheren Zeitpunkt zurückkehren.
In den 1990ern hatte beispielsweise Paolo diese Idee, die International Workers of the World (IWW) auf Basis der immateriellen Arbeit neu zu fassen, indem er sie “Immaterial Workers of the World” nannte. Das war nicht einfach ein Fall von Wiederholung der Arbeit des IWW. Es beinhaltete, etwas aus dieser Erfahrung herauszuziehen, Inspiration aus seiner Heterogenität hinsichtlich der Sprachen, seiner Mobilität und seiner transversalen Natur herauszuziehen. Der Grund, warum ich auf dem “noch nicht” insistiere, ist, darauf zu insistieren, daß die Multitude nicht unmittelbar ist. Sie ist ein organisatorisches Projekt. Man kann dies etwa so denken, und das war ein Gemeinplatz des Feminismus in den 1970ern, daß, nur weil jemand eine Frau ist, dies nicht bedeutet, daß sie automatisch eine Feministin ist. Man muß eine Feministin werden – es ist ein Projekt. Ich insistiere darauf, weil manchmal Leute sagen möchten, daß irgendeine Gruppe von Menschen, irgendeine Menge (crowd) die Multitude ist. Die Multitude ist ein Projekt, das Organisation benötigt, um sich zu ereignen. Und ich denke, es gibt die Möglichkeit, daß Toni und ich – und ich denke Paolo – übereinstimmen würden, nämlich daß dieses Projekt heutzutage möglicher ist als jemals zuvor.
Was an Paolos Arbeit unterschiedlich ist, ist sein Fokus auf die Sprache – sein Gebrauch linguistischer Ansätze, um die heutige Produktion und ihre Potentialitäten zu analysieren und zu verstehen –, was wirklich großartig, sehr wichtig und etwas ist, das Toni und ich von ihm stehlen. Ich möchte dazu anmerken, daß ich die kollektive Entwicklung von Begriffen wie “Multitude” liebe. Es ist etwas, das ich sehr genieße und es ist eine Möglichkeit, wirklich Ideen zu entwickeln, indem man zusammen an ihnen arbeitet. Es ist nicht so, daß sie jemandem gehören, und dieser Typ von Zusammenarbeit kann sehr produktiv sein.

Frage: Sie sagen, daß das Projekt der Multitude “heute erst recht möglich” ist. Mit Sicherheit existierte doch aber das Vermögen, uns selbst autonom zu organisieren, d. h. das Vermögen zu Singularität plus Kooperation, nicht erst seit dem Postfordismus, wie es in Ihrer beider Arbeit und in der von Virno impliziert wird?

Hardt: Okay, nehmen wir wieder Paolo. Virno liest Hannah Arendt, wenn sie in Vita activa oder vom tätigen Leben behauptet, daß es einen Unterschied zwischen Politik und Ökonomie gibt. Ökonomisches Leben ist instrumentalistisch und politisches Leben ist Sprechen in der Gegenwart von anderen. Paolo nimmt diese Idee und sagt, sie beziehe sich auf die Produktion in der Fabrik – die Fabrik ist kein Platz des Sprechens in der Gegenwart anderer. Sie könnten uns und Paolo widersprechen und behaupten, daß es immer noch ein Sprechen gibt, das in der Fabrik vor sich geht?

Frage: Ja, und daß die Fabrik immer schon mit dem Zuhause und der Gemeinschaft und überhaupt mit anderen redseligen Orten verbunden war.

Hardt: Das ist richtig, aber heute ist die Produktion (die Fabrik selbst) geschwätziger. Es gibt eine größere Nähe zwischen dem Politischen und dem Ökonomischen. Die Fähigkeiten, die auf der Arbeit verlangt werden, sind die Fähigkeiten, die in der Politik genutzt werden. Frederic Jameson spricht hier von der Entdifferenzierung (de-differentiation) von Feldern in der Ära der Globalisierung. Virno, Toni und ich sagen etwas ähnliches – obgleich für einen unterschiedlichen und sehr spezifischen Fall –, nämlich daß heutzutage eine Entdifferenzierung zwischen Arbeit und Politik unter der gegenwärtigen Form des Kapitalismus vor sich geht. Das bedeutet, daß es ein zunehmendes Vermögen zur Demokratie und zur Politik gibt. Selbstverständlich muß diese These überprüft werden.

Frage: Wenn Sie von dem Vermögen zur Multitude und zur Demokratie sprechen, meinen Sie damit, daß wir fähig sind, zu arbeiten, weil wir das Vermögen zum guten Leben besitzen? Oder meinen Sie, daß wir das Vermögen zum guten Leben besitzen, weil wir arbeiten? Mit anderen Worten: Hängen unsere Vermögen zur Singularität plus Kooperation von der Tatsache ab, daß wir immaterielle Arbeit ausüben, oder müssen wir die Arbeit durchqueren, um die Multitude zu erreichen?

Hardt: Das ist eine wichtige Frage, die Frage, woher unser Vermögen kommt, und ich denke, daß die Antwort sein muß, daß es beides ist. Dies ist jetzt eine Nebenbemerkung, aber ich habe früher viel Managementliteratur gelesen. Das ist ein Thema, über die das Management und die Managementtrainer viel nachdenken, nämlich: woher kommen die Fähigkeiten?
Nehmen Sie als Beispiel McDonald’s. McDonald’s hat diese Trainingsschule, wohin sie ihre Manager schicken – ich glaube, sie nennen sie “McDonald’s University” oder so ähnlich. Es gibt dieses Interview mit einem der Managementrainer, in dem er gefragt wird, woher die Mitarbeiter die Fähigkeiten bekommen, die sie brauchen. Als Antwort entgegnet der Trainer, daß die Arbeiter die Fähigkeiten von ihren Eltern aus der Familie bekommen – sie bekommen die Fähigkeiten, die sie benötigen, um bei McDonald’s zu arbeiten, wenn ihre Eltern sie großziehen und ihnen beibringen, soziale Personen (people persons) zu sein.

Frage: Dies führt uns zu einem roten Faden, der sich durch viele Fragen, die wir zu Ihrer Arbeit haben, zieht: das Thema der unbezahlten reproduktiven Arbeit, Arbeit die angeblich jenseits der Stechuhr (off the clock) ist, aber dennoch mit Wertproduktion verbunden ist. Es gibt da einen Abschnitt aus dem ersten Buch des Kapitals, der diesen Punkt verdeutlicht, wo Marx einige englische Theoretiker zitiert, die sagen, daß “die englische Arbeiterklasse heutzutage unglaublich produktiv ist, und zwar weil sie über Freizeit verfügt”. Wenn Negri und Sie also über das Eindringen des General Intellect in die Produktion sprechen, stammt dieser dann aus der Privatsphäre (space of home) und der Reproduktion?

Hardt: Auf eine Art stimmt das, ja. Es gibt unbezahlte Arbeit vor dem Postfordismus und man konnte einige Vermögen bereits zu früheren Zeiten beobachten. Aber so wie bei der Multitude handelt es sich nicht um eine spontane oder unmittelbare Sache. Es ist wichtig, zu erkennen, daß Menschen diese Vermögen besitzen, und zu schauen, welche bestimmten Vermögen heutzutage existieren, um zu sehen, wie sie auf der Arbeit benutzt werden und wie sie anders benutzt werden könnten. Und dann ist da der Punkt, sie wirklich anders zu nutzen. Wir müssen diesen Teil verstehen, und es ist auch eine Frage der Organisation, um dies tun zu können.

Frage: Als Antwort auf eine ähnliche Frage zu unbezahlter reproduktiver Arbeit in einem früheren Interview, das Sie der aut-op-sy-Mailinglist gegeben haben, erwähnten Sie Deleuze und Guattari und ihre Idee der Wunschproduktion als eine Möglichkeit, die Idee der Produktion zu öffnen. Können Sie mehr darüber sagen, besonders über die unterschiedlichen Typen von Produktion? Es gibt beispielsweise Wunschproduktion und Wertproduktion – sind sie nicht zu jeder Zeit immer dasselbe?

Hardt: Es ist wichtig festzuhalten, daß für Deleuze und Guattari die Wunschproduktion häufig übernommen wird. Für sie tritt die Wunschproduktion in die Wertproduktion zumindest zeitweise ein und verbleibt nicht immer extern. Ich denke, das ist entscheidend, weil Deleuze und Guattari manchmal als zu optimistisch verstanden werden könnten. Aber sie erkennen, daß der Wunsch eine Beziehung zur Wertproduktion hat. Wir könnten dies auch als Perspektiven ansehen, unterschiedliche Perspektiven, von denen aus wir Dinge betrachten können, und dann schauen, was wir von der einen oder anderen Perspektive her besser verstehen können.

Frage: Was hier auf dem Spiel steht, ist die Frage des praktischen Bruchs und des Verfügens über den theoretischen Raum, diesen Bruch zu denken. Es ist wie Trontis Standpunkt, daß die Arbeiterklasse auf bestimmte Weise handelt und diese Verhaltensweisen in den Kapitalismus eingreifen, aber diese Verhaltensweisen dann kapitalisiert werden. Macht das Argument, daß “alle Lebenszeit produktiv ist”, es nicht schwer, über Aktivitäten, die jetzt – oder wenigstens eines Tages – nicht kapitalisiert werden, nachzudenken?

Hardt: Das ist eine wichtige Frage. Zuerst denke ich, daß es wichtig ist, anzumerken, daß das eine das andere nicht ausschließt. Die Kapitalisierung von Aktivitäten ist nicht nur eine schlechte Sache. Wenn beispielsweise Arbeiterforderungen von dem Kapital erfüllt und das Kapital gezwungen wird, sich zu ändern, bedeutet das, daß die Arbeiterklasse mächtiger wird und sich neue Räume und Möglichkeiten eröffnen. Zumindest denke ich, daß Tronti das in den 1960ern meinte.
Zum Beispiel führte ich auf dem letzten Weltsozialforum in Porto Alegre ein Interview mit einem brasilianischen Journalisten, der fragte, ob “es kein Problem ist, wenn das World Economic Forum behauptet, daß es sein Ziel ist, die Armut zu lindern?” Und ich antwortete: “Warum ist das ein Problem?” Es dauerte ein wenig, zu verstehen, was das Problem war, aber schließlich sagte er: “Sie haben Ihre Ideen gestohlen, sie haben Ihr Programm gestohlen!” Ich sagte: “Das heißt, wir haben gewonnen.” In der Lage zu sein, das Programm deines Feindes zu diktieren, ist eine Stärke und ein Zeichen von Macht.
Die Frage des Bruchs ist eine andere wirklich wichtige organisatorische Frage. In gewisser Hinsicht ist es eine Frage, herauszufinden, welche Formen von Sabotage wir heute nutzen können, um die Vermögen umzukehren, die wir mit zur Arbeit nehmen und die wir bei der Arbeit aneignen, und sie auf eine andere Art und Weise zu nutzen. Ich wünschte allerdings, ich hätte ein gutes Beispiel dafür, und daß es ein richtig einfaches wäre, wie ein in eine Maschine gerammter Holzschuh!

Frage: Negri und Sie beziehen sich in Ihrer letzten Arbeit zustimmend auf Lenin. Sie haben behauptet, daß, wenn Lenin heute hier wäre, er in der Form eines Netzwerks organisieren – und vermutlich den in Empire und Multitude vorgetragenen Argumenten zustimmen würde. Könnten Sie verdeutlichen, was Sie in den Arbeiten Lenins und an der historischen Entwicklung, mit der er verbunden ist, relevant finden? Umgekehrt, wenn Negri und Sie zu Lenins Zeiten gelebt hätten, wären Sie dann Lenins Meinung gewesen?

Hardt: In seinem Buch über Lenin sagt Toni (wenn ich mich recht erinnere), daß Lenins Theorie der Partei keine Theorie der bolschewistischen Partei ist. Es ist eine Theorie der Organisation, und die Idee ist, daß die herrschende Form der Arbeit die mächtigste Organisationsform hervorbringen wird, um dem Kapital entgegenzutreten. Die Form der Organisation hat dazu tendiert, mit der herrschenden Form der Arbeit zu korrelieren – es gibt einen Chef in der Fabrik, es gibt einen Chef in der Partei oder der Gewerkschaft –, und diese Organisationsformen sind diejenigen, die am effektivsten sind, um die Forderungen der Arbeiter voranzutreiben. Im wesentlichen ist dies ein funktionalistisches Argument.
Das ist es, was ich im Hinblick auf die Differenzen, die wir mit Slavoj Zizek haben, denke. Manchmal bin ich mir nicht sicher, ob Slavoj im ersteren oder im letzteren Sinne sagt, daß “wir eine Partei brauchen”. Ich würde gerne denken, daß er das letztere meint – also daß wir eine Form der politischen Organisation brauchen, die dem gegenwärtigen Feld der Arbeit und ihrer Vermögen angemessen ist, und nicht, daß wir die organisatorische Struktur der Bolschewiki wiederholen müssen. Auf der anderen Seite weiß ich wirklich nicht, was ich tun würde, wenn ich in Lenins Zeit wäre. Ich kann das nicht beantworten. Ich weiß nicht, ob das, was ich denke, wenn ich zurückblicke, das gleiche ist wie das, was ich denken würde, wenn ich tatsächlich da gewesen wäre.

Frage: Könnten Sie mehr darüber sagen, auf was Sie sich mit der “herrschenden Form der Arbeit” beziehen? Es gibt beispielsweise herrschende Formen des Werts, die während des gesamten Zyklus der Produktion wichtig sind, und es gibt auch Herrschaft, die der Arbeiterklasse (oder der Arbeiteraristokratie) immanent ist. Sie scheinen zu sagen, daß die effektivste und die wünschenswerteste Form der Organisation nicht immer dasselbe sind. Oder daß diejenige Form, die als effektivste angenommen wird, tatsächlich keine Effizienz im Aufwerfen wichtiger Fragen hat – und dies ein Problem für den Kommunismus ist.

Hardt: Effizienz ist wirklich wichtig, aber auf eine gewisse Art ist es das, was Toni und ich über die gegenwärtige Produktion und die vorhandenen Möglichkeiten sagen. Das Modell in den Produktionsverhältnissen ist heute, verglichen mit denen früherer Zeiten, wünschenswerter. Die Kluft zwischen Wünschbarkeit und Effizienz verengt sich.
Wir beziehen uns nicht darauf, welches Segment des Proletariats in der privilegiertesten Position ist oder politische Vorherrschaft besitzt; wir fragen eher, welcher Typ von Arbeit seine Qualitäten auf andere Arbeitsbereiche und über die Gesellschaft als Ganzes ausgedehnt hat. An einem Punkt wurden die Qualitäten der Industriearbeit zunehmend allen anderen Formen der Produktion und der Gesellschaft selbst auferlegt – ihre Mechanisierung, ihre Zeitlichkeit, ihr Arbeitstag, ihre Familienstruktur, ihre Rhythmen. Toni und ich argumentieren, daß genau das heutzutage mit der immateriellen Arbeit geschieht. Natürlich gibt es große Unterschiede darin, wie einige Menschen dafür entlohnt werden, und es existieren geschlechtliche, rassische und geographische Arbeitsteilungen. Affektive Arbeit, zum Beispiel, ist größtenteils weiblich und wird schlecht entlohnt – und in diesem Sinne bildet sie in keiner Art und Weise eine Arbeitsaristokratie –, aber ihre Qualitäten werden über andere Bereiche ausgedehnt, und das ist der Punkt, wo sich die Kluft zwischen Wünschbarkeit und Effizienz verengt.

Frage: Aber es scheint zwischen unbezahlter reproduktiver Arbeit in früheren Zeiten und der unbezahlten reproduktiven Arbeit heute keinen großen Unterschied zu geben. Beispielsweise erledigt eine Hausfrau heute ähnliche Sachen wie eine Hausfrau in den Jahren um 1900 (obgleich auf andere Art und Weise) – sie sind beide mit der Wertproduktion verbunden. Warum sehen Sie die Möglichkeit für eine neue Organisationsform, die auf den Qualitäten dieses Arbeitstypus beruht?

Hardt: Weil jetzt diese Wesenszüge über verschiedene Arbeitsformen ausgedehnt werden. In vielerlei Hinsicht ist dies der Beweggrund, Arbeit und Klassenzusammensetzung zu beobachten – um zu sehen, wozu Menschen imstande sind. Wir möchten die Vermögen der Menschen nicht einfach nur behaupten. Wir möchten nicht einfach nur annehmen, daß jeder dazu geboren ist, autonome Netzwerke zu bilden. Wir müssen darauf sehen, welche Vermögen Menschen besitzen und wie sie bestätigt werden können.
Ich kann sehen, daß gerade die Tatsache der sozialen Existenz bedeutet, daß einige dieser Vermögen bereits existieren müssen. Aber ich bin mir nicht sicher, ob z. B. das Vermögen, ein Kind zu lieben, das gleiche ist wie (oder ausreicht für) das Vermögen, eine Gesellschaft zu organisieren und zu führen. Und muß zudem nicht Liebe selbst gelernt werden? Es scheint mir, daß, wenn wir einfach menschliche Vermögen – zur Liebe, zur Demokratie, zur Selbstorganisation – als unmittelbar und natürlich behaupten, wir die notwendigen organisatorischen Prozesse nicht erkennen.

Frage: Ihre Arbeit zur Biopolitik scheint sich – obwohl in wichtigen Hinsichten verschieden – mit den Ideen Giorgio Agambens über die souveräne Macht und das nackte Leben zu überschneiden. In Multitude kritisieren Negri und Sie Agamben und argumentieren an anderer Stelle mit Nachdruck dagegen, “das Fleisch mit jeglichem Begriff des nackten Lebens durcheinanderzubringen”. Wie würden Sie Agambens Sicht auf Biopolitik, besonders im Verhältnis zu Ihrer eigenen, charakterisieren? Könnten Sie verdeutlichen, was in dieser Meinungsverschiedenheit mit Agamben über die Bedingung des nackten Lebens und der Potentialität des Körpers auf dem Spiel steht? Konkreter gefragt, wie verstehen Sie das Verhältnis zwischen der Bedingung des nackten Lebens und der Potentialität der Multitude?

Hardt: Es ist eine methodologische Frage. Agambens Gebrauch des Begriffs eröffnet wichtige Möglichkeiten, aber er verschließt auch einige. Seine Arbeit ist wertvoll, um zu verstehen, was der Souverän tut usw. Unsere Differenzen mit Agamben drehen sich alle um das nackte Leben, seine Macht und seine Potentialitäten. Toni und ich versuchen eine Arbeit, die helfen soll, die Fülle und Macht der Multitude zu erkennen. Und ich glaube einfach nicht, daß das Agambens Anliegen ist. Und ich bin mir nicht sicher, daß sein Projekt dafür als hilfreich angesehen werden kann. Das Konzept des nackten Lebens scheint mir nicht zu erlauben, diese Macht (der Multitude) zu erkennen.

Frage: Negri und Sie scheinen nahezulegen, daß Biopolitik ein neuer Wesenszug ist, charakteristisch für den zeitgenössischen Kapitalismus und Antikapitalismus. Gibt es eine Biomacht oder Biopolitik vor dem Postfordismus? Könnte man nicht sagen, daß z. B. Kindererziehung eine Produktion des Lebens und des sozialen Lebens ist?

Hardt: Es ist unmöglich zu leugnen, was Sie sagen. Foucault sagt, daß das, “was bei der Macht auf dem Spiel steht, das Leben selbst ist” – und natürlich zielt jede Macht immer auf das Leben ab. Aber ich würde sagen wollen, daß es eine neue Bedeutung und ein neues Vermögen der Multitude gibt, die Toni und ich Biopolitik nennen möchten. Das ist auf einer Linie mit dem, was ich vorhin über die Formen der Organisation gesagt habe, die wünschenswert sind, die jetzt in einigen Fällen bereits in der Arbeit beobachtet werden.

Frage: Letztens haben wir über so etwas wie ein unvorhergesehenes Ereignis (emergency) und über das Erscheinen (emergencies) diskutiert. Wie begreifen Sie das Verhältnis von Ereignis und Erscheinen, oder anders ausgedrückt, zwischen konstituierter und konstituierender Macht – und was steht bei dem Argument über die verschiedenen Arten und Weisen, wie sie verstanden werden können, auf dem Spiel?

Hardt: Ich liebe dieses Paar Ereignis-Erscheinen. Ich wünschte, ich hätte mehr darüber zu sagen. In einigen Gesichtspunkten ist es eine Reformulierung einiger Argumente über die Krise, nämlich daß die Krise eher hervorgerufen wird, als das Ergebnis objektiver Widersprüche zu sein. Ich frage mich gleichwohl, ob die Idee des Erscheinens die Idee einer präexistenten Sache impliziert – und zwar in dem Sinne, wie Sie, glaube ich, vorhin impliziert haben, daß die menschlichen Vermögen für den Kommunismus nicht historisch, sondern schon immer vorhanden sind. Er muß keine derartige Präexistenz implizieren, aber wenn er das tut, dann ist es für mich nicht ganz so interessant. Es ist in jedem Fall wichtig, anzumerken, daß Krisen Produkte von Kreativität und selbst Momente der Kreativität sind, kreative Möglichkeiten, die sich eröffnen.

Frage: Ich will nicht sagen, daß der Kommunismus präexistent oder spontan ist, oder das Bedürfnis nach Organisation mindern. Es gibt keinen Kampf ohne Organisierung. Sergio Bologna behauptet, daß selbst Momente, die für spontan gehalten werden, in Wahrheit das Ergebnis von schlecht verstandenen Mikroprozessen des Kampfes und der Organisation sind. Gleichzeitig ist es wichtig, darauf zu beharren, daß jeder beliebige Ort einen Raum darstellt, in dem die Organisierung beginnen kann.
Es gibt Versionen des Marxismus, die einigen Menschen zuschreiben, total ausgelaugt, verdinglicht, träge und unfähig zur Selbstbestimmung in irgendeinem kommunistischen Sinne zu sein. Es ist eine Theorie der Menschen als schwach, begrenzt und machtlos – beispielsweise innerhalb der Leninisten, die behaupten, daß die Arbeiter objektiv begrenzt und allein nur in der Lage sind, ein “gewerkschaftliches Bewusstsein” (trade union consciousness) für sich selbst zu erreichen, und deshalb die Partei brauchen, um sie aufzuklären und zu führen. Negri und Sie scheinen demgegenüber zu betonen, daß jeder heutzutage zu autonomer Selbstbestimmung fähig ist und daß die Arbeiter heute über das gewerkschaftliche Bewußtsein hinausgehen können, was meiner Meinung nach der Grund dafür ist, warum viele Leninisten Ihre Arbeit nicht mögen. Auf der anderen Seite impliziert Ihre Betonung von “heute fähig”, im Gegensatz zu “immer noch fähig”, daß es Menschen gibt, die gestern nicht in der Lage zu dieser Aktivität waren, daß einige Arbeiter nicht fähig waren, ohne die Rolle, die die Partei oder etwas ihr ähnliches spielte, autonom zu agieren.

Hardt: Ich weiß nicht, wie ich hier implizite Behauptungen über die Vergangenheit vermeiden kann: wie Sie aufgezeigt haben, impliziert das Beharren auf “immer noch fähig” ein präexistentes Vermögen für den Kommunismus und das Beharren auf “heute fähig” ein “gestern unfähig”, also eine vorausgehende Unfähigkeit zum Kommunismus. Keine Alternative ist befriedigend, aber wenn ich mich entscheiden muß, bevorzuge ich die erste.
Ich sehe nicht wirklich, daß es zwischen diesen beiden Behauptungen hier einen Konflikt geben muß. Ich finde es gut, daß Sie sich für die Würde vergangener Kämpfe einsetzen wollen, aber zu sagen, daß wir aus ihnen gelernt haben, daß wir wegen ihnen schlagkräftiger sind, daß wir heute quasi auf ihren Schultern stehen, all das wertet sie in keiner Weise ab. Im Gegenteil! Gibt es einen besseren Weg, ihre Macht und ihren Erfolg anzuerkennen?

Frage:
Sie argumentieren, daß der “Krieg gegen den Terror” und der andauernde soziale Krieg, den wir heute erleben, durch die Aufhebung der “realen” Demokratie möglich gemacht worden ist. Nehmen Sie denn an, daß die Verteidigung demokratischer Rechte (Bürgerrechte, Privatsphäre und Menschenrechte) ausreichend für die Aufgabe ist, eine “authentische” Demokratie umzusetzen, oder verlangt militanter Widerstand etwas Innovativeres und Kreativeres? Wenn ja, was glauben Sie, wie das aussehen könnte – insbesondere im Zusammenhang mit dem “Krieg gegen den Terror” und den Ausnahmezuständen, die er hervorruft?

Hardt: Um es klar und deutlich zu sagen, niemand sagt, daß die Dinge vor der Aufhebung von Rechten usw. im “Krieg gegen den Terror” großartig waren. Aber wir können und sollten gegen die Angriffe auf diese Rechte kämpfen, und das setzt überhaupt nicht voraus, daß der Zustand vor diesen Angriffen einer der authentischen Demokratie war oder einer, zu dem wir zurückkehren wollen.

Frage: Die Idee, daß Widerstand ontologisch vorgängig und konstitutiv für Macht ist, ist einer der zentralen Gedankengänge in Ihren Arbeiten mit Negri. Dennoch scheint es fair zu sein, zu behaupten, daß das Kapital auch ein kreatives Vermögen hat, wandlungs- und anpassungsfähig zu sein – die Absorption von Widerständen, Widersprüchen und Konflikten, die sich ihm in den Weg stellen (zum Beispiel Post-1968-Forderungen der Verweigerung von Arbeit, der Aufhebung des Staates), um weiter voranzuschreiten und neue Techniken der Gewalt, Unterwerfung und Lohnsklaverei zu produzieren (beispielsweise das mobile und flexible Paradigma des Postfordismus). Könnten Sie noch etwas über die Bedeutung der Idee der ontologischen Priorität in dem politischen Projekt der Multitude und ebenfalls etwas über die Frage der produktiven Macht sagen?

Hardt: Natürlich. Ich glaube nicht, daß es irgendeine Möglichkeit gibt, zu leugnen, daß der Souverän und das Kapital einige Macht besitzen, um zu handeln, Dinge zu tun und deren Ergebnisse zu formen. Ich meine, wenn wir Zustandsberichte auf Grundlage unserer Macht ablegen und dabei die Macht des Souveräns und des Kapitals nicht berücksichtigen, dann scheint es mir, daß unseren Berichten einfach etwas fehlt, sie werden nicht wirklich unseren Erfahrungen oder dem, was passiert ist, entsprechen.

Frage: Heißt das, daß Sie nicht mit der Idee von Deleuze oder Tronti übereinstimmen, daß der Widerstand (oder die Arbeiterklasse) ontologisch vorgängig ist und daß Produktion immer von unten nach oben fließt?

Hardt: Ich denke nein. Zunächst stellen sowohl Deleuze als auch Tronti die Behauptungen in einer vergleichbaren Art und Weise auf. Gegen die Annahme, daß Kapital oder Macht der einzige Akteur ist, insistieren sie darauf, daß der Widerstand auch ein wichtiger Akteur ist. Zweitens gehen sie aber noch weiter, weil sie eine unterschiedliche Qualität dieser beiden Seiten aufzeigen. Um Deleuzes Begriffe aus seinem Buch über Nietzsche zu gebrauchen, könnte man sagen, daß das Kapital nur reaktiv ist, während nur der Kampf der Arbeiter aktiv und kreativ ist. Das bedeutet nicht, daß das Kapital keine gewaltige Macht ausüben kann. Natürlich kann es das. Es bedeutet einfach, daß die Macht des Kapitals immer auf dem Ressentiment beruht, daß sie sich immer auf die Bedrohung des Anderen richtet. Nur die Arbeiterklasse kann autonom produzieren. Dieser Unterschied in der Qualität ist es, auf den sie hinweisen und der mir ein wichtiger Punkt zu sein scheint.

 
 
Aus dem Englischen von Michael Heister & Richard Schwarz

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