Angus: Mein Name ist Ian Angus, und ich
bin von der Simon Fraser Universität und dem Institute
of the Humanities an der Simon Fraser Universität. Ich
bin sehr erfreut, Ihnen mitteilen zu können, daß wir heute die Gelegenheit
haben, mit Ernesto Laclau und Chantal Mouffe zu sprechen, deren
Werk über zeitgenössische soziale und politische Theorie nicht nur
in der englischsprachigen, sondern in der ganzen Welt wohlbekannt
ist. Chantal Mouffes frühes Werk behandelte Gramsci, und das frühe
Werk von Ernesto Laclau befaßte sich mit Populismus, Unterentwicklung
und der Theorie des Staates. Von Anfang bis Mitte der 80er Jahre
verfaßten sie zusammen ein Buch mit dem Titel Hegemony and Socialist
Strategy1, das in viele Sprachen übersetzt wurde
und für die Theorie der Neuen Sozialen Bewegungen und für ihre Wirkung
auf zeitgenössische Gesellschaften einflußreich gewesen ist. Nun
möchte ich Chantal Mouffe und Ernesto Laclau vorstellen und, um
in das Gespräch einzusteigen, fragen, was ihre prägenden politischen
Erfahrungen waren und wie sie eigentlich dazu kamen, mit dem Denken
über soziale und politische Theorie zu beginnen. Chantal.
Mouffe: Meine prägenden politischen Erfahrungen
machte ich als Studentin in den 60er Jahren, und es war vor allem
die Zeit des imperialistischen Kampfes. Ich studierte sowohl an
der Universität von Leuven als auch in Paris; in Paris war es die
Zeit des Algerienkrieges. Es war die Zeit der kubanischen Revolution;
es war die Zeit des imperialistischen Kampfes. Dies alles war wirklich
wichtig für mich, und ich war darin sehr involviert. Und eigentlich
war das der Grund, warum ich Ende der 60er nach Kolumbien ging,
weil wir, meine ganze Generation, in die sogenannte Dritte Welt
auszogen - einige Leute gingen nach Algerien, andere nach Afrika,
und ich ging nach Lateinamerika. Ich sollte hinzufügen, daß mich
in intellektueller Hinsicht zu dieser Zeit hauptsächlich mein Studium
bei Althusser beeinflußt hat und daß es offensichtlich zu diesem
Zeitpunkt eine sehr wichtige Verknüpfung zwischen meiner politischen
Bindung und meinen intellektuellen Interessen gab.
Angus: War zu dieser Zeit der Feminismus
für dich wichtig? Ich weiß, daß du später ziemlich ausführlich über
feministische Theorie geschrieben hast.
Mouffe: Zu dieser Zeit existierte der Feminismus
nicht wirklich, weil, wie du weißt, der Feminismus etwas war, das
aus der Studentenbewegung am Ende der 60er hervorging. Aber Anfang
der 60er gab es eigentlich keine feministische Bewegung. Natürlich
wußte ich, daß es eine sehr einflußreiche feministische Bewegung
zu Beginn des Jahrhunderts gegeben hatte. Aber ich wurde erst später
eine Feministin. Ich ging zuerst durch den Sozialismus und Marxismus,
und es war Anfang der 70er, als ich anfing, den Feminismus kennenzulernen,
weil das der Moment war, an dem er begann, wirklich organisiert
zu werden.
Angus: Ernesto, was waren deine ersten politischen
Erfahrungen?
Laclau: Meine ersten politischen Erfahrungen
sammelte ich in Argentinien. Ich kam erst 1969 nach Europa. So fand
meine erste Annäherung an den Marxismus und den Sozialismus sowohl
in den Studentenbewegungen als auch in den politischen Kämpfen der
60er Jahre in Argentinien statt. Zu diesem Zeitpunkt, es waren die
Jahre unmittelbar nach der kubanischen Revolution, gab es eine Radikalisierung
der Studentenbewegung in ganz Lateinamerika, und ich war sehr aktiv
in ihr. Ich war Studentenvertreter im Senat der Universität von
Buenos Aires und Präsident des Zentrums der philosophischen Studentenvereinigung.
Und später beteiligte ich mich an verschiedenen linksgerichteten
Bewegungen in Argentinien. Vor allem war ich Mitglied der Führung
der Sozialistischen Partei der Nationalen Linken, die in den 60ern
in Argentinien sehr aktiv war. Was die intellektuellen Einflüsse
betrifft, muß ich hinzufügen, daß ich niemals ein dogmatischer Marxist
war. Auch in diesen frühen Tagen versuchte ich immer, den Marxismus
mit irgendetwas anderem zu kombinieren. Und an bestimmten Punkten
erlangten Gramsci und Althusser einen bedeutenden Einfluß auf mich,
die, jeder auf eine andere Weise, versuchten, den Marxismus in Begriffen,
die sich eher den zentralen Problemen der zeitgenössischen Politik
annäherten, neu zu formulieren.
Angus: Eines der Themen deiner frühen Arbeiten,
das ziemlich einflußreich gewesen ist - hauptsächlich in Lateinamerika,
aber auch darüber hinaus -, ist vielleicht deine Analyse des Populismus.
Auf welche Weise enthält dies eine Revision der marxistischen Theorie
jener Zeit?
Laclau: Laß mich zunächst sagen, daß mein
Interesse am Populismus aus der Erfahrung der perónistischen Bewegung
in Argentinien hervorging. Die 60er Jahre waren in Argentinien eine
Epoche der raschen Radikalisierung und der Auflösung der Staatsapparate,
die von einer Oligarchie beherrscht wurden, die seit 1955 das Land
regiert hatte. In diesem Kontext war es nun vollkommen verständlich,
daß, als sich immer mehr Forderungen des Volkes um bestimmte politische
Pole zentrierten, dann dieser Prozeß der Massenmobilisierung und
ideologischen Massenformierung nicht einfach in Klassenbegriffen
vorgestellt werden konnte. Deshalb wurde für mich die Frage nach
dem, was wir die demokratische oder nationale Anrufung des Volkes
nennen, zentral. Was nun das betrifft, wonach du mich gefragt hast,
nämlich, in welcher Weise dieses einige Kategorien des Marxismus
in Frage stellte, würde ich behaupten, daß es dies in dem Sinne
tat, daß die Identitäten des Volkes niemals als um einen Klassenkern
herum organisiert begriffen wurden, sondern im Gegenteil als in
hohem Maße offen. Sie können sich in unterschiedliche Richtungen
bewegen, und sie können Bewegungen einen Ort einräumen, deren ideologische
Eigenschaften nicht von Anfang an bestimmt waren. In diesem Sinne
stellte es einige von den Zielen des klassischen Marxismus in Frage.
I. Von Althusser zu Gramsci
Angus: Ihr habt eben beide den Einfluß von
Louis Althusser, dem französischen strukturalistischen Marxisten,
und Antonio Gramsci, dem Begründer des Denkens über Hegemonie in
den zeitgenössischen Gesellschaften als Umgestaltung des common
sense, erwähnt. Dies sind wirklich sehr unterschiedliche Einflüsse,
zumindest scheint es mir, daß sie sehr unterschiedliche Strömungen
innerhalb der marxistischen Theorie darstellen. Und sie scheinen
eine äußerst unterschiedliche Haltung gegenüber der liberalen Demokratie
zu implizieren. Würdet ihr mir zustimmen, daß eine Althusserianische
Position dazu tendiert, die liberale Demokratie in einem nicht allzu
positiven Licht zu betrachten, während vielleicht eine Gramscianische
Richtung den Marxismus oder den Sozialismus eher in Fortführung
oder als eine Ausdehnung der liberalen Demokratie ansieht? Wie geht
ihr mit diesen beiden Einflüssen um?
Mouffe: Ich muß sagen, daß die Einflüsse,
für mich zumindest, nicht gleichzeitig auftraten. Ich wurde eine
Gramscianerin, als ich aufhörte, eine Althusserianerin zu sein.
Und Gramsci war für mich eigentlich eine Möglichkeit, einen anderen
Ansatz zu finden, weil ich mit der Althusserianischen Art und Weise
des Dogmatismus sehr unzufrieden wurde, der - ich spreche hier von
Leuten, die zu dieser Zeit durch Althusser beeinflußt worden sind
- praktiziert wurde. Und ich muß zugeben, daß der stärkste Einfluß
stattfand, als ich in Kolumbien war. Dort begann ich zu realisieren,
daß all diese Kategorien, die ich von Althusser gelernt hatte, tatsächlich
nicht ganz zu der kolumbianischen Situation paßten. Und dort begann
ich, nach etwas anderem Ausschau zu halten. Hier stieß ich wieder
auf Gramsci, denn ich war ihm schon vorher begegnet, aber zu einem
Zeitpunkt, wo ich noch nicht bereit war, ihn zu akzeptieren, weil
ich noch zu sehr eine Althusserianerin war. Deshalb stellt er etwas
dar, und da stimme ich mit dir überein, das mich sehr stark meine
Ansicht hinsichtlich der liberalen Demokratie ändern ließ. Und in
dem Kontext der neuen Lage, auf die wir in den 70ern trafen, war
das auch entscheidend. Da du vorhin nach dem Feminismus gefragt
hast, sage ich, daß der Feminismus etwas ist, auf das ich stieß,
als ich zu Beginn der 70er aus Kolumbien nach Europa zurückkehrte,
und dann bemerkte ich, daß sich das Klima sehr stark verändert hatte
und daß es diese ganzen einflußreichen Neuen Sozialen Bewegungen
gab. Und aufgrund dieser Bewegungen interessierte ich mich weiterhin
für Gramsci, und ich war in der Lage, damit zu beginnen, sie zu
verstehen und sie auf eine andere Art zu betrachten. Und das war,
als wir begannen, besser gesagt, als ich zu dieser Zeit begann,
über die Konzeption der Hegemonie bei Gramsci zu arbeiten. Und meine
erste Arbeit, die du erwähntest2, versuchte zu zeigen,
daß wir bei Gramsci eine Form des Marxismus finden, die nicht-reduktionistisch
ist und die uns theoretische Werkzeuge bereitstellt, um genauestens
die Neuheit dieser Bewegungen zu verstehen, die sich in den 70ern
zu entwickeln begannen. Aber ich glaube, daß ich bereits zu diesem
Zeitpunkt mit dem Althusserianischen Modell sehr unzufrieden war.
Angus: Ernesto, du erwähntest vorhin, daß
du sehr früh mit der Klassenfixiertheit innerhalb der marxistischen
Theorie sehr unzufrieden warst. Hängt für dich diese Unzufriedenheit
mit der Aneignung von Gramsci in deiner eigenen Arbeit und insbesondere
der Kategorie des common sense bei Gramsci zusammen? Es gibt
einen Versuch bei Gramsci, die gewöhnlichen Einsichten der Menschen
in einem alltäglichen Sinne nicht als unwichtig abzutun.
Laclau: Ja, auf jeden Fall mit Gramsci.
Und laß mich in diesem Zusammenhang auch etwas über Althusser sagen.
Weil ich eigentlich glaube, daß es zwei Seiten bei Althusser gibt,
die am Werk sind. Einerseits gibt es den Begriff der Überdeterminierung,
der in seinem Buch Für Marx3 sehr zentral ist
und der es einem tatsächlich in einem gewissen Maße erlaubt, mit
dem klassischen Reduktionismus zu brechen, weil der Klassenwiderspruch
einen fundamentalen Widerspruch darstellt, der niemals eintrifft.
Diese Vorstellung eines überdeterminierten Widerspruchs erlaubt
es uns deshalb, damit zu beginnen, sehr weit in eine nicht-reduktionistische
Richtung voranzuschreiten. Aber später, beginnend mit Das Kapital
lesen4, schließt Althusser sein System in einen viel
zu starken strukturalistischen Rahmen ein, und ich denke, daß einige
der Grundannahmen seiner anfänglichen Arbeit verlorengingen. Aber
genau das fanden wir bei Gramsci, weil wir durch die Kategorie der
Hegemonie - nicht nur der des common sense - erkennen konnten,
daß der Prozeß des politischen Wiedervereinens als Prozeß des Verbindens
einer Vielzahl von Elementen ohne direkte Klassenbedeutung um einen
bestimmten Kern herum begriffen wurde, der bei Gramsci noch ein
Klassenkern bleibt, was aber nicht notwendigerweise so sein sollte.
Die "Teguro Position" wird von ihm als ein Typ des antagonistischen
Kampfes begriffen, bei dem verschiedene Kräfte versuchen, in ihrem
Projekt eine Reihe von sozialen Elementen zu artikulieren, deren
Klassenzugehörigkeit nicht von Anfang an festgelegt ist. Einerseits
bedeutet dies eine Privilegierung des politischen Moments über den
Moment des strukturellen Determinismus, die hilft, vom Reduktionismus
des klassischen Marxismus wegzukommen, und die andererseits erlaubt,
zu einer Theorie des common sense als etwas zu gelangen,
das fortwährend durch das Wirken dieser Kräfte gestaltet und neugestaltet
wird, deren Klassenzugehörigkeit nicht von Anfang an festgelegt
ist.
II. Identität und politischer Raum: Hegemony
and Socialist Strategy
Angus: Es gab also eine Betonung des politischen
Moments, das begann, mit dem Einfluß von Gramsci zusammenzufallen.
Und in den frühen 80er Jahren, nehme ich an, habt ihr begonnen,
Hegemony and Socialist Strategy zu schreiben, das, wie ich
glaube, 1985 zum ersten Mal erschienen ist. Wie würdet ihr vom Standpunkt,
den ihr heute einnehmt, auf dieses Projekt zurückblicken: was wolltet
ihr erreichen, und was denkt ihr, habt ihr mit ihm erreicht?
Mouffe: Es war zu einem Zeitpunkt - ich
weiß nicht, ob du dich daran erinnerst - als sehr viel von der Krise
des Marxismus die Rede war. In Wirklichkeit wurde darüber schon
seit Beginn des Jahrhunderts viel gesprochen, aber es war gerade
wegen der Entwicklung der Neuen Sozialen Bewegungen ein besonders
wichtiger Zeitpunkt, es existierte ein Gefühl auf der Linken, daß
es ein Problem mit der marxistischen Theorie gab. Die marxistische
Theorie erlaubte uns nicht, diese Bewegungen zu verstehen. Es war
auch politisch ein Zeitpunkt, als die Kritik des sowjetischen Modells
und dessen, was Totalitarismus genannt wurde, aufzutauchen begann.
Deshalb gab es, würde ich sagen, ein sehr spezielles Klima, in dem
die Menschen fühlten, daß es eine Notwendigkeit gab, das Projekt
der Linken zu reformulieren; und daß es nicht nur der Marxismus,
sondern das Projekt der Linken war, das sich in der Krise befand.
Es geschah genau in diesem Kontext, daß wir begannen, über dieses
neue Projekt der Linken nachzudenken, und wie es reformuliert werden
könnte. Wir können vom Marxismus nehmen, was noch gültig ist, und
tatsächlich fühlten wir sehr stark, daß eine Gramscianische Version
des Marxismus gerettet werden mußte, zumal es eine Tendenz gab,
den ganzen Marxismus aufgrund dieser Unzufriedenheit zu verwerfen.
Deshalb wollten wir nehmen, was bei Gramsci wichtig war, und sehen,
wie wir auf dieser Grundlage das linke Projekt reformulieren könnten.
Ich glaube, daß dies zwei Seiten hatte. Es gab sicher einen theoretischen
Aspekt, der die Kritik des Ökonomismus, die Kritik des Essentialismus
betraf, weil wir fühlten, daß es offensichtlich das Haupthindernis
im Marxismus war, daß er eine ökonomistische oder eine in erster
Linie ökonomistische Sicht darstellte. Und de facto lag die Bedeutung
von Gramsci für uns darin, daß er uns erlaubte, einen nicht-ökonomistischen
Marxismus auszuarbeiten. Und de facto hatte viel von meiner ersten
Arbeit über Gramsci mit diesen Dingen zu tun. Und da gab es auch
den anderen, eher politischen Aspekt, der darin bestand, ein linkes
Projekt anzubieten, nicht nur die Theorie, sondern das linke Projekt
zu reformulieren, das erlauben würde, den Kampf der Arbeiterklasse
mit dem Kampf der Neuen Sozialen Bewegungen zu artikulieren, miteinander
zu verknüpfen. Und dies ist natürlich der Teil des Buches, der sich
mit radikaler und pluraler Demokratie beschäftigt, da es zwei Aspekte
in dem Buch gibt, das sowohl eine Reformulierung hinsichtlich der
Theorie als auch eine hinsichtlich des politischen Projekts darstellt.
Angus: Die Verlagerung von einer eher klassischen
marxistischen Theorie zu, sagen wir, einem Gramscianischen Einfluß
erlaubte euch, eine Theorie der Neuen Sozialen Bewegungen zu entwickeln,
die sowohl in Kontinuität mit dem Marxismus stand, als auch eine
Kritik des Marxismus zur Folge hatte. Eines der Elemente, das in
dieser Kritik zu einer zentralen Vorstellung geworden ist, ist das
Konzept der Identität. Könntet ihr mir die Bedeutung erklären, die
das Konzept der Identität in der Theorie von Hegemony and Socialist
Strategy hatte?
Laclau: Ja. Was die Frage der Neuen Sozialen
Bewegungen anbelangt, würde ich bezweifeln, daß wir einfach von
einer Klassenanalyse zu den Neuen Sozialen Bewegungen übergegangen
sind. Weil das nur bedeutet hätte, den privilegierten Akteur der
Geschichte, der ursprünglich in Klassenbegriffen vorgestellt wurde,
von der einen zu einer anderen Gruppe zu verschieben. Was wir also
taten, und dies ist zentral für deinen, die Identität betreffenden
Punkt, ist, den Begriff eines identifizierbaren Agenten in Frage
zu stellen. Das heißt, was wir erkannten, ist, daß das Subjekt durch
eine Vielfalt der Subjektpositionen konstruiert wird, daß eine wesentliche
Uneinheitlichkeit zwischen diesen Positionen existiert und daß es
fortwährende Praktiken der Reartikulation gibt. Demzufolge stellten
die sozialen Bewegungen lediglich ein Symptom dar: das Symptom einer
Auflösung der Position, von der aus Politik ihren Anfang nahm, und
einen Übergang zu einer Situation, in der eine Vielfalt von Themen
um verhältnismäßig homogene soziale Agenten organisiert wurde, bis
zu einem Moment, in dem es eine Art Zerstreuung von Identitäten
gab und der Prozeß der politischen Artikulation immer entscheidender
wurde. Die sozialen Bewegungen, von denen die Menschen in den 80er
Jahren so viel sprachen, sind zum Beispiel in den 90ern vergleichsweise
weniger wichtig. Aber dies verändert nicht die Gültigkeit unseres
Ansatzes, weil unser Ansatz nicht die Absicht hatte, einen neuen
privilegierten Akteur des historischen Wandels ausfindig zu machen.
Er handelte davon, wie sich Politik denken läßt, wenn du mit fragmentierten
sozialen Identitäten beginnst; daran wird nun die Frage nach Identität
geknüpft. Politische Identitäten sind für uns niemals unmittelbar
gegeben. Politische Identitäten werden immer auf der Grundlage von
komplexen diskursiven Praktiken konstruiert. Das ist ein Grund,
warum die psychoanalytische Kategorie der Identifikation zentral
für uns ist. Laß uns annehmen, daß du etwas hast wie dasjenige,
was es vor einigen Jahren in den Vereinigten Staaten gab, nämlich
die Regenbogenkoalition von Jesse Jackson; da siehst du einen Versuch,
eine Streuung von sozialen Positionen, eine Issue-Politik,
um eine Art von vereinheitlichter historisch-politischer Intervention
zu bündeln. Es funktionierte nicht. Aber es gibt ein Bild von dem
ab, was wir berücksichtigen müssen. Den Punkt zusammenfassend, denke
ich, daß das, mit dem wir uns befassen, ein Rückzug von dem Agenten
als einer homogenen Identität ist, um den Agenten als ein Resultat
einer pragmatischen Artikulation einer Vielzahl von Issue-Politiken
und einer politischen Intervention zu begreifen; und als ein Ergebnis
aus dem Gesagten wird eine politische Identifikation benötigt, die
tiefgreifend den Begriff des Agenten und der Identität verändert.
Angus: Während also Identität vielleicht
am Anfang als eine Art Lösung erscheint, stellt sie in Wirklichkeit
einen Namen für eine ganze Reihe von Problemen dar.
Laclau: Ich denke schon. Kein einfacher
Begriff von Identität kann heutzutage in irgendeiner mehr oder weniger
anspruchsvollen Analyse von zeitgenössischer Politik akzeptiert
werden.
Angus: Hegemony and Socialist Strategy
versuchte also, die gegebenen politischen Kategorien des Marxismus
auf der einen Seite, aber auch die des liberal-demokratischen Denkens
zu dekonstruieren und eine Reinterpretation dieser Kategorien auf
eine Art und Weise zuzulassen, die euch erlaubte, die zeitgenössische
Politik besser zu begreifen und auch die verschiedenen Arten von
Interventionen, die sich während der 80er und auch während der 90er
Jahre hindurch zu ereignen scheinen, zu verstehen. Ich stelle fest,
daß eine Richtung, in der diese Rekonzeptualisierung stattfindet,
ist, daß ihr dazu tendiert, von dem zu sprechen, was ihr den "politischen
Raum" nennt. Und das verwundert mich, denn es scheint mir, daß die
traditionelle politische Kategorie die der öffentlichen Sphäre wäre
- oder etwas Ähnliches wie "die Öffentlichkeit". Seht ihr euer Konzept
des politischen Raumes als eine Reformulierung des traditionellen
Konzepts der öffentlichen Sphäre an?
Mouffe: Nun, ich sollte darauf hinweisen,
daß wir zu dem Zeitpunkt, als wir das zu entwickeln begannen, nicht
vorrangig an die liberale Sicht gedacht haben. Wenn wir von der
Notwendigkeit sprechen, den politischen Raum zu vervielfachen, denke
ich, daß sie sehr stark mit dem verbunden ist, was den zentralen
Ansatz in Hegemony... anbelangt, auf den sich Ernesto bereits
bezogen hat, nämlich die Notwendigkeit, zu verstehen, daß es verschiedene
Formen des Antagonismus gibt; daß man nicht einfach glauben kann,
daß der Klassenantagonismus der einzige ist. Tatsächlich zeigt der
ältere Kampf um die Neuen Sozialen Bewegungen herum an, daß es viele
andere Formen von Herrschaft oder Formen von Unterdrückung gibt
und daß diese ebenfalls in Frage gestellt werden müssen; und sie
gewähren auch eine Sicht darauf, daß im Fall der Unterordnung besondere
Formen von Identitäten konstruiert werden. Und eigentlich war die
Art und Weise, in der wir uns dieses Projekt der radikalen und pluralen
Demokratie vorstellten - nämlich den demokratischen Kampf auf alle
Bereiche, in denen das Herrschaftsverhältnis existierte, auszuweiten
-, der Grund, warum wir dasjenige vervielfachten, was wir den politischen
Raum nennen, und warum wir denken, daß er zum Beispiel weder auf
die traditionelle öffentliche Sphäre noch um die Klassenfrage herum,
wie die Marxisten ihn ansahen, strikt begrenzt ist, sondern daß
es tatsächlich eine Vielzahl von Orten der Macht in der Gesellschaft
gibt, die in Frage gestellt werden müssen. Und ich muß hinzufügen,
daß, zumindest so weit es mich betrifft, ich erst später darüber
nachzudenken begann, was die Liberalen darüber sagten, und zu erkennen
versuchte, was die Beziehung zwischen unserer Sicht und der der
Liberalen ausmachte. Und ich begann wahrscheinlich zu dieser Zeit,
diese liberale "Kunst der Trennung" mehr zu schätzen - die Unterscheidung
zwischen dem Öffentlichen und dem Privaten -, weil, wie ich vermute,
der wichtigste Aspekt in dieser Hinsicht die Art und Weise darstellte,
auf die zumindest in Frankreich die Kritik des Totalitarismus durch
Menschen auf der Linken gezeigt hat, daß es sehr wichtig ist, diese
Unterscheidung zwischen dem Öffentlichen und dem Privaten aufrechtzuerhalten,
weil jeder Versuch, die Unterscheidung zu verwischen, faktisch den
Weg zu einer Art von vollständiger Kontrolle der Gesellschaft durch,
beispielsweise, den Staat eröffnete; und die liberale Tradition
stellt uns eine Möglichkeit zur Verfügung, zumindest Grenzen zu
errichten, um dies zu verhindern. Sobald ich dies ausspreche, stellt
sich natürlich die Frage, was die Grenzen dieser liberalen Vorstellung
sind? Ich glaube, daß die Grenzen beispielsweise durch die feministische
Kritik sehr gut zum Vorschein gekommen sind. Ich glaube, daß die
feministische Kritik gezeigt hat, daß die Art und Weise, wie die
Unterscheidung von öffentlich und privat durch die Liberalen hergestellt
wurde, darin bestand, die sayers of issues in die Privatsphäre
zu verbannen und genau durch diesen Schritt zu verhindern, daß viele
Herrschaftsformen in Frage gestellt werden konnten. Daran kann man
natürlich ermessen, inwiefern die Vorstellung einer Vielfältigkeit
des politischen Raumes wichtig ist, um diese liberale Weise, in
der die Unterscheidung von öffentlich und privat konstruiert wurde,
zu korrigieren. Ich denke, daß wir wahrscheinlich an ihr festhalten
werden müssen, im Gegensatz zu einem Feminismus, der glaubt, daß
diese Unterscheidung aufgegeben werden muß, weil sie auf diese Weise
konstruiert wurde, indem zum Beispiel alle Fragen, die mit der Unterordnung
der Frauen zu tun haben, ins Private verbannt wurden. Das glaube
ich nicht. Ich denke, daß es sich um eine sehr wichtige Unterscheidung
handelt, aber daß sie neu gezogen werden muß. Sie muß in dem Sinne
problematisiert werden, daß wir an eine Vielfältigkeit der öffentlichen
Sphäre oder des politischen Raumes denken müssen, an eine Vielfältigkeit,
die gerade zulassen wird, daß nicht alle Besonderheiten im Privaten
verbleiben, und auf die die Herstellung irgendeiner Art von öffentlicher
Sphäre erfolgen mag, in der ein Konsens, ein rationalerer Akteur
oder ein homogenerer Akteur erzeugt wird.
III. Kommunitarismus, Liberalismus und radikale
Demokratie
Angus: So siehst du die zeitgenössische
Politik als etwas an, in das eine Vielzahl von Kämpfen und eine
Vielfalt von politischen Identitäten involviert sind. Auf der anderen
Seite hat der traditionelle Begriff des Staatsbürgers dazu tendiert,
eine eher vereinheitlichte oder vereinheitlichende Vorstellung darzustellen.
Welches neue Verständnis des Konzepts des Staatsbürgers und der
Staatsbürgerschaft ist demzufolge in dieser neuen Vorstellung von
Politik enthalten?
Mouffe: Hinsichtlich des Konzepts des Staatsbürgers
würde ich sagen: zwei Dinge. Zuerst die Art und Weise, in der ich
darüber nachzudenken begann, nachdem wir Hegemony and Socialist
Strategy beendet und die Vorstellung des Klassensubjekts als
dem vereinheitlichenden Subjekt in Frage gestellt hatten. Nichtsdestotrotz
beharrten wir darauf, daß diese Kritik der Klasse nicht bedeutete,
irgendeine Art von extremer postmodern diversifizierter Position
zu fordern, in der wir jede Notwendigkeit einer gemeinsamen Identität
in Frage stellen würden. Und natürlich würde ich behaupten, daß
gerade das Projekt der Hegemonie, das Projekt der Artikulation,
implizierte, daß es irgendeine Art eines kollektiven Subjekts, das
benötigt wird, oder einer kollektiven Form von Identität, die benötigt
wird, gibt. Und dann begann ich mich zu fragen, wo wir dies finden
könnten. Ich bekam Interesse daran, zu überprüfen, wie der Begriff
des Staatsbürgers reformuliert werden könnte, damit er die gemeinsame
Identität bereitstellen könnte. Und ein Teil meiner Arbeit war tatsächlich
damit befaßt. Was ich zum Beispiel versucht habe, war, die Vorstellung
von dem einzubringen, was ich eine "radikaldemokratische Vorstellung"
von Staatsbürgerschaft nenne. Weil der Punkt, den ich hier, glaube
ich, betonen möchte, ist, daß es viele Probleme mit dem Liberalismus
gibt. Eines ist offensichtlich die Tatsache, daß es nicht ein Staatsbürger
ist, der handelt, um zu partizipieren, vielmehr ist es ein Staatsbürger,
der Rechte besitzt, die er gegen den Staat einsetzt. Hier fehlt
also etwas Grundlegendes. Aber vom Standpunkt her gesehen, den wir
hier diskutieren, ist wahrscheinlich das Hauptproblem, daß der Staatsbürger
als jemand angesehen wird, bei dem von allen anderen Bestimmungen
abgesehen wird, und weiterhin ist es die Art, wie wir in der Öffentlichkeit
handeln, aber ohne dabei all unsere sozialen Einbindungen in Betracht
zu ziehen. Und ebenfalls die Vorstellung, daß, sobald wir als "Staatsbürger"
handeln, wir alle in derselben Weise handeln sollten. Und ich denke,
daß dies das Hauptproblem darstellt. Ich denke, daß wir akzeptieren
sollten, daß die Kategorie der Staatsbürgerschaft eine äußerst umkämpfte
ist und daß es sehr verschiedene Weisen gibt, in denen das Verhältnis
begriffen wird: es gibt eine neoliberale, eine neokonservative und
eine sozialdemokratische Richtung. Und ich habe vorgeschlagen, auch
über die Möglichkeit einer radikaldemokratischen Staatsbürgerschaft
nachzudenken, was bedeutet, daß, wenn es ein Verhältnis ist, innerhalb
dessen wir versuchen, diese Vielfalt des politischen Raumes in einer
gemeinsamen Identität zu artikulieren, und wenn wir als radikaldemokratische
Staatsbürger handeln, wir dann automatisch am Kampf des Feminismus,
am Kampf gegen Rassismus und so weiter interessiert sein werden
- im Gegensatz zum bloßen Staatsbürger, den diese ganzen anderen
Kämpfe nicht betreffen.
Angus: Durch die Vorstellung von Hegemonie
versucht ihr folglich, das Politische als einen Bereich des Antagonismus,
einen Bereich einer Vielzahl von Kämpfen, neu zu denken. Und dies
scheint auf einer eher philosophischen Ebene eine Neuinterpretation
des Verhältnisses zwischen Partikularität und Universalität zu implizieren,
wobei viel von dem, was du, Ernesto, in deinen letzten Essays geschrieben
hast, sich auf dieses Problem konzentrierte. Wie kann deiner Meinung
nach eine neue Vorstellung von oder eine neue Beziehung zwischen
Partikularität und menschlicher Universalität mit einer Vorstellung
von der Öffentlichkeit in Zusammenhang gebracht werden?
Laclau: Okay. Zwei Dinge. Erstens denke
ich, daß der Begriff der Universalität im Grunde mit der Erweiterung
der Gleichheitslogik innerhalb der Gesellschaft verbunden ist, aufgrund
der Logik der Äquivalenz - was wir Logik der Äquivalenz genannt
haben ?, was die Ausdehnung des Gleichheitsprinzips, die durch eine
bestimmte relative, pragmatische Universalität in der Gesellschaft
hergestellt wird, auf eine größere Vielzahl von sozialen Verhältnissen
voraussetzt. Zum Beispiel begann der Begriff der menschlichen Gleichheit
mit dem Christentum innerhalb der religiösen Diskurse: alle Menschen
sind vor Gott gleich. Die Errungenschaft der Aufklärung bestand
in der Ausdehnung dieser Logik der Äquivalenz von Gleichheit auf
die öffentliche Sphäre. Und hier wurde der öffentliche Raum der
Staatsbürgerschaft erzeugt. Seit diesem Zeitpunkt sehe ich die Kunst
der demokratischen Revolution als die fortschreitende Ausdehnung
des Gleichheitsprinzips auf einen größeren Bereich an. Im 19. Jahrhundert
wird zum Beispiel in den sozialistischen Diskursen diese reine Gleichheit
im öffentlichen Raum der Staatsbürgerschaft auf die ökonomischen
Verhältnisse ausgeweitet, und wir können die sozialen Bewegungen
unserer gegenwärtigen Epoche als die Ausdehnung dieses Prinzips
auf die Bereiche der rassischen (racial), sexuellen und institutionellen
Verhältnisse und so weiter ansehen. In einem ersten Schritt sehe
ich also diesen hegemonialen Prozeß der Ausdehnung der Gleichheitslogik
gerade als die Voraussetzung an, um neue Formen der Universalität
herzustellen. In einem zweiten Schritt würde ich nun sagen, daß
dies immer von der Ausdehnung der demokratischen Macht in der Gesellschaft
abhängt. Ich denke, daß dies nicht der Anerkennung von etwas entspricht,
das schon immer da war, sondern einen Prozeß einer wirklichen Schöpfung
darstellt. Wenn wir mit der essentialistischen Vorstellung des Subjekts
brechen, behaupten wir nicht, daß die sozialen Bewegungen eine Idee
entdecken - eine Ungleichheit -, die immer da war, sondern daß sie
wirklich das Terrain dieser Gleichheit und die Gleichheit als solche
erzeugen. Ich denke, daß wir in diesem Sinne mit ausschließlich
repräsentationalen Theorien von menschlicher Gleichheit brechen
und viel stärker auf der performativen Dimension beharren müssen,
die gerade die Voraussetzung von Gleichheit darstellt.
Angus: Die Geschichte der menschlichen Universalität
ist also eine Logik der Ausdehnung oder der Entwicklung der Vorstellung
der Gleichheit auf immer größere Bereiche. Aber zu jeder Zeit, in
der sie sich ausbreitet, stellt dies eine schöpferische Entwicklung
dar; es ist nicht etwas, das im voraus existiert.
Laclau: Genau. Ich würde sogar weitergehen
und sagen, daß diese Schöpfung von einer wachsenden Vielfalt ihren
Anfang nimmt. Laß uns die Vorstellung von Gleichheit, die du im
Marxismus finden kannst, mit derjenigen vergleichen, die du in der
radikalen Demokratie finden kannst. Im Marxismus hat die menschliche
Gleichheit als Vorbedingung die Auslöschung aller Differenzen. Das
heißt, daß der historische Prozeß des Kapitalismus zur Proletarisierung
der Mittelklassen und der Landbevölkerung führe, so daß es zu einer
zunehmenden Vereinheitlichung im Sinne einer Homogenisierung der
riesigen Masse der Ausgebeuteten komme, die schließlich die soziale
Revolution durchführen würden. So war für den Marxismus die zunehmende
Vereinfachung der Sozialstruktur unter dem Kapitalismus die Vorbedingung
von menschlicher Gleichheit. In dem Sinne, für den wir eintreten,
geschieht das Entgegengesetzte. Das heißt, daß die Durchsetzung
von Gleichheit (equalization) von einer wachsenden Mannigfaltigkeit
aus beginnt, einer Anerkennung von Vielfalt, von Differenz und so
weiter und so fort. Aber in diesem Fall kann die Gleichheitslogik
keine Logik der Homogenisierung sein. Sie muß eine Logik von dem
sein, was wir "Äquivalenz" nennen, weil du in einem Äquivalenzverhältnis
nicht einfach eine Identität entdeckst, du entdeckst etwas, das
innerhalb eines Raums von Differenzen identisch ist. Dies deutet
eine viel subtilere Form von politischer Logik an.
Angus: Es gibt also eine neue Interpretation
der Beziehung zwischen dem Partikularen und dem Universellen, und
wir haben bisher die Betonung auf die Ausbreitung des Begriffs von
Universalität gelegt. Gibt es da eine Auswirkung auf die andere
Seite dieser Beziehung, darauf, wie wir das Partikulare begreifen,
das traditionellerweise unkompliziert aufgefaßt wurde als etwas,
das übersehen wird und vielleicht privat oder idiosynkratisch ist?
Verstehst du das Partikulare ebenfalls auf eine andere Weise?
Laclau: Laß mich zuerst das Partikulare
vom Privaten unterscheiden, weil du viele Identitäten haben kannst,
die partikular und von ihrem Typ der Intervention her ziemlich öffentlich
sind. Viele Bewegungen zum Beispiel, die um eine Ethnizität herum
erzeugt werden, sind äußerst partikularistisch, aber auf der anderen
Seite sind sie definitiv nicht privat. Was ich sagen würde - und
dies ist etwas, von dem, wie ich glaube, Chantal einige seiner Dimensionen
entwickeln kann; sie hat sich damit mehr beschäftigt als ich - ist
folgendes: Heutzutage haben wir, gegen den Universalismus gerichtet,
eine Ideologie eines extremen Partikularismus. Ich glaube nun, daß
ein extremer Partikularismus etwas Selbstzerstörerisches ist. Laß
uns annehmen, daß du eine Partikularität innerhalb der Gesellschaft
hast - eine ethnische Gruppe, eine nationale Minderheit, eine sexuelle
Minderheit und so weiter -, die ihre Rechte innerhalb der globalen
Gesellschaft verteidigt. Wenn sie beispielsweise das nationale Selbstbestimmungsrecht
behaupten, was machen sie dann anderes, als ein universelles Prinzip
auszudrücken? Gerade der Rechtsdiskurs, auf dem die Verteidigung
von Partikularität basiert, setzt eine Art universeller Differenz
voraus. Wenn du jetzt das Recht von nationalen Minderheiten auf
Selbstbestimmung behauptest, dann präsentierst du ein Prinzip, in
dem die Logik der Äquivalenz am Werk ist, weil du einerseits die
Partikularität von all diesen Forderungen hast und andererseits
ein Recht, das in universellen Begriffen formuliert sein muß. Wie
diese Universalität nun begriffen werden kann, die nicht mehr wie
in der klassischen Philosophie die Universalität einer Instanz,
einer zugrundeliegenden Basis ist, stellt eines der Hauptprobleme
der zeitgenössischen politischen Theorie dar.
Angus: Chantal, Ernesto hat angedeutet,
daß du den Partikularismus, der traditionell in der Öffentlichkeit
außen vor gelassen worden ist, potentiell für geeignet ansiehst,
die zeitgenössische Öffentlichkeit zu beeinflussen oder eine Art
von neuer Beziehung zwischen dem öffentlichen Recht und einer partikularen
Position ins Spiel zu bringen. Inwiefern hast du jüngst an diesem
Problem gearbeitet?
Mouffe: Nun, ich würde die Frage auf eine
etwas andere Weise formulieren. Es ist wahr, daß ich an dem interessiert
gewesen bin, was ich diese neue Artikulation zwischen dem Universellen
und dem Partikularen nenne, aber es ist im Kontext meiner Überlegungen
über die Staatsbürgerschaft geschehen: meiner Überlegungen darüber,
wie wir eine Form von Gemeinschaftlichkeit denken können, die nicht
alle Differenzen auslöscht. Aber heute spüre ich, daß wir einem
falschen Dilemma gegenüberstehen. Auf der einen Seite sind da diejenigen,
die - weil sie erkannt haben, daß etwas an der liberalen Vorstellung
grundsätzlich falsch ist und etwas in ihr fehlt, nämlich die Vorstellung
eines gemeinsamen Bandes; und das ist natürlich eine Überlegung
der Kommunitaristen - diese Gemeinschaftlichkeit wieder einführen
wollen, aber sie führen sie in einer Weise ein, die dahin tendiert,
keinen Raum für die Differenz von Partikularitäten zu lassen. Auf
der anderen Seite sind da diejenigen, die glauben, daß sie, weil
sie Platz für die Differenz von Partikularitäten schaffen möchten,
keine Form von Gemeinschaftlichkeit akzeptieren können, weil jede
Form von Gemeinschaftlichkeit in Wahrheit eine andere Form von Gewalt
darstelle. Was wir wirklich zu finden versuchen sollten, ist meiner
Meinung nach, eine Weise von Gemeinschaftlichkeit zu begreifen,
die Raum für Differenzen und für Partikularitäten läßt. Weil das
die Art und Weise ist, auf die wir heutzutage etwas in Betracht
ziehen und reformulieren können - in einer Weise, die mit dem radikaldemokratischen
Projekt kompatibel ist -, was ich als den wichtigsten Beitrag des
Liberalismus zur modernen Demokratie ansehe, nämlich die Idee des
Pluralismus. Natürlich besteht das Problem darin, daß die Liberalen
auf dem Pluralismus beharren, aber daß sie sehr schlecht darin sind,
über Gemeinschaft nachzudenken. Die Kommunitaristen sind ausgezeichnet
im Nachdenken über Gemeinschaft, aber sie sind schlecht im Nachdenken
über Pluralismus. In einem gewissen Sinne ist es meine Position,
zu versuchen, das Beste von den Kommunitaristen und von den Liberalen
zu nehmen und mir eine Weise des Zusammenlebens vorzustellen, in
der wir eine Form von Gemeinschaftlichkeit haben, die Differenzen
nicht auslöscht. Das ist in vielerlei Hinsicht das, von dem die
Idee einer radikalen und pluralen Staatsbürgerschaft handelt, da
natürlich die Vorstellung von Staatsbürgerschaft grundsätzlich Gemeinschaftlichkeit
impliziert - wir sind in ihr zusammen als Mitglieder einer politischen
Gemeinschaft. Und dennoch: obwohl wir in ihr sind, sind wir verschieden.
Und diese Zusammengehörigkeit kann nicht einfach auf das begrenzt
werden, was wir gemeinsam haben. Es muß hier einen Weg geben, auf
dem auch unsere Partikularitäten in diesem gemeinsamen Band berücksichtigt
werden müssen. Aber das ist sicherlich keine einfache Vorstellung,
denke ich. Ich bin gewiß nicht in der Lage, dir bereits die Lösung
zu geben, aber das ist die Richtung, in der wir über diese Fragen
nachdenken müssen. Und ich glaube, daß dies tatsächlich sehr wichtig
für die Probleme ist, die heutzutage in den gegenwärtigen Gesellschaften
aufgeworfen werden - die ganze Frage des Multikulturalismus oder
der politischen Identität und all das; das ist die Frage, die sie
wirklich stellen.
Laclau: Wenn ich dazu etwas hinzufügen darf:
Wir müssen auch sehr sensibel für die Art und Weise sein, auf der
die Betonung auf Universalität und auf Partikularität in verschiedenen
politischen Kulturen liegt. In den Vereinigten Staaten haben heutzutage
zum Beispiel viele demokratische Kämpfe die Form eines Kampfes gegen
den Kanon angenommen, eines multikulturalistischen Kampfes, in dem
die Betonung des Partikularismus sehr stark im Vordergrund steht.
Wenn wir auf ein Land wie Südafrika blicken, das ich kürzlich besucht
habe, findest du dort einen völlig anderen Typ von Diskurs, weil
der Diskurs der Ethnizität unmittelbar verdächtig ist - wie es beispielsweise
die KwaZulu-Diskurse, der Buthelezi-Diskurs usw. sind. Und die offizielle
Ideologie der Apartheid war die Vorstellung einer getrennten Entwicklung
von und des Respekts vor kulturellen Identitäten, während die Forderung
der Widerstandsbewegung eine Forderung nach Gleichstellung (equalization)
der Bedingungen war, und die Idee des Nicht-Rassismus nahm eine
universalistische Dimension an, die viel präsenter war. Folglich
würde ich Universalismus und Partikularismus als die zwei Seiten
eines Spannungsverhältnisses begreifen, das vielen verschiedenen
politischen Projekten erlaubt, sich in ihm einzuschreiben.
Angus: Das ist ein sehr guter Punkt. Eines
der Dinge, die ich bemerkt habe, ist, daß bei vielen ausländischen
Besuchern, die nach Kanada kommen und über Multikulturalismus sprechen,
eine Tendenz existiert, zu unterstellen, daß jede Rede über Ethnizität
notwendigerweise in die Richtung eines ethnischen Partikularismus
oder einer ethnischen Säuberung, etwas in dieser Art, führt. Natürlich
hängt es sehr stark von der Art und Weise ab, wie diese Dinge in
einer bestimmten Geschichte zusammengekommen sind. Diese Neubearbeitung
der Beziehung zwischen dem Partikularen und dem Universellen kann
viele verschiedene Formen annehmen. Chantal, du hast erwähnt, daß
du in deiner Bearbeitung dieser Probleme, mit Rücksicht auf eine
kritische Aneignung der liberalen Tradition, versucht hast, den
liberalen Individualismus auf der einen Seite und den liberalen
Kommunitarismus auf der anderen Seite zu vermeiden, und daß du dabei
bist, ein eigenes Projekt zu entwickeln, das du als radikale Demokratie
bezeichnest. Was bedeutet der Begriff "radikal", wenn er auf diese
Weise auf die Demokratie angewendet wird? Was hat es im besonderen
mit dieser Theorie auf sich, das sie vom Liberalismus der normalen
Spielart unterscheidet?
Mouffe: Vermutlich muß man eine Unterscheidung
zwischen radikaler Demokratie und dem treffen, was ich agonistischen
Pluralismus nenne, weil das Projekt der radikalen Demokratie in
Wahrheit ein politisches Projekt darstellt. In diesem Sinne bedeutet
der Begriff "radikal" die Radikalisierung der demokratischen Revolution
durch ihre Ausdehnung auf immer mehr Bereiche des sozialen Lebens.
Weil ich auf dem Standpunkt stehe, daß, wenn wir die ethisch-politischen
Prinzipien der modernen Demokratie, die für mich die pluralistische,
die liberale Demokratie ist, nehmen, und diese Prinzipien die Behauptung
von Freiheit und Gleichheit für alle sind, ich nicht denke, daß
an diesen Prinzipien irgendetwas faul ist. Ich kann mir nicht vorstellen,
wie wir radikalere Prinzipien als diese finden könnten. Ich glaube,
daß das Problematische an diesen Prinzipien nicht in ihrer Natur
liegt, sondern in der Tatsache, daß sie in Gesellschaften, die beanspruchen,
diese Ideen zu praktizieren, nicht oder nur zu einem kleinen Teil
realisiert werden. Demzufolge besteht das Projekt der radikalen
Demokratie tatsächlich darin, diese Ideale zu nehmen und sie zu
radikalisieren, indem eine radikalere Interpretation von Freiheit,
Demokratie, Gleichheit und von all dem gegeben wird. Weil ich denke,
daß viel von dem Kampf, der in der Politik, in der liberal-demokratischen
Gesellschaft stattfindet, dasjenige betrifft, was ich die Interpretation
dieser Prinzipien nenne. Weil Freiheit, Gleichheit und all das natürlich
auf viele verschiedene Arten interpretiert werden können. Und nebenbei
gesagt, denke ich, daß der Kampf, den ich um viele verschiedene
Formen der Staatsbürgerschaft ? ich erwähnte vorhin eine neoliberale,
eine neokonservative und eine sozialdemokratische -, sich um verschiedene
Interpretationen dieser Prinzipien dreht. Und ich bin davon überzeugt,
daß eine wirklich lebhafte demokratische Gesellschaft diese Debatte
und diese Konfrontation über diese Interpretationen führen muß.
Und hier gelangt die Vorstellung des agonistischen Pluralismus zu
ihrer vollen Entfaltung, weil es das Modell des agonistischen Pluralismus
ist, das ich der liberalen Vorstellung entgegenzusetzen versuche.
Es geht nicht darum, dem Liberalismus die radikale Demokratie entgegenzusetzen,
weil wir die radikale Demokratie eigentlich auch als "radikale liberale
Demokratie" bezeichnen könnten. In der Tat folgt aus der Idee der
radikalen und pluralen Demokratie nicht, die konstitutionellen Prinzipien
der liberalen Demokratie in Frage zu stellen, sondern sie zu radikalisieren,
indem sie wirklich und auf immer mehr Bereiche angewendet werden.
Aber es gibt auch ein eher theoretisches Problem und hier ist es,
denke ich, wo die liberale Vorstellung von Politik auch sehr unzureichend
gewesen ist, weil die Liberalen die Politik hauptsächlich entweder
unter dem Modell der Ökonomie oder unter dem Modell der Ethik begreifen.
Das heißt, wenn ich in Begriffen der Ökonomie spreche - und das
ist zum Beispiel das herrschende Modell des Interessengruppen-Pluralismus
-, dann begreifen sie das politische Terrain so, als ob es ein Markt,
ein politischer Markt wäre, auf dem sich Menschen mit ihren unterschiedlichen
Interessen befinden, die konkurrieren, und wo wir Kompromisse schließen
müssen. Aber im Grunde wird in Begriffen der Ökonomie gedacht. Unlängst
hat es eine Reihe von Liberalen wie John Rawls und all die sogenannten
ontologischen Liberalen gegeben, die mit diesem Modell sehr unzufrieden
waren, das zweifellos eine äußerst instrumentalistische Sicht auf
Politik darstellt. Und sie haben vorgeschlagen, etwas zu entwickeln,
was heutzutage als das Modell der deliberativen Demokratie bezeichnet
wird, das im Grunde versucht, die Moral wieder einzuführen. Es handelt
sich also nicht nur um eine Frage des Interesses, sondern es gibt
wichtigere Dinge.
Angus: Chantal, du hast deine Kritik des
Liberalismus als etwas beschrieben, das zu einer Theorie des agonistischen
Pluralismus führt. Könntest du das näher erklären?
Mouffe: Ich stelle mir hier eine Kritik
der Art und Weise vor, in der im Liberalismus Politik begriffen
wird, nämlich entweder, wie ich bereits sagte, in Begriffen der
Ökonomie oder in denen der Ethik. Aber in beiden Fällen wird die
Dimension, die ich "das Politische" nenne, das heißt die Dimension
des Antagonismus, im Liberalismus getilgt. Ich würde tatsächlich
behaupten, daß es keine Theorie der Politik im Liberalismus gibt
und daß an dem zeitgenössischen, sogenannten politischen, Liberalismus
nichts politisch ist, weil er einen Versuch darstellt, die Moral
auf die Sphäre des Öffentlichen anzuwenden und einzuführen, was
zur Folge hat, daß die Dimension des Konflikts und des Antagonismus
in Wahrheit getilgt wird. Dagegen schlage ich vor, den Kampf, der
innerhalb einer moralischen demokratischen Gesellschaft vor sich
gehen sollte, in Begriffen dessen anzusehen, was ich als agonistischen
Pluralismus bezeichne. Ein Pluralismus, der nicht wie im Fall von
Rawls oder Habermas in die Privatsphäre abgeschoben wird, damit
ein rationaler politischer Konsens in der Sphäre der Öffentlichkeit
möglich wird, sondern der anerkennt, daß es für die Menschen sehr
wichtig ist, eine Möglichkeit zu besitzen, sich in der öffentlichen
Sphäre mit tatsächlich unterschiedlichen Positionen zu identifizieren.
Eines der Probleme, die vor kurzem in Europa, aber, wie ich glaube,
in gewissem Maße auch hier in Nordamerika aufgetreten sind, besteht
darin, daß es durch das Verwischen der Unterscheidung zwischen links
und rechts eine Art von Konsens-Modell gibt, in dem wirklich kein
großer Unterschied zwischen den demokratischen Parteien der Rechten
und den sozialistischen Parteien besteht. Es gibt also keinen wirklichen
Agonismus und keine Möglichkeit für die Menschen, sich mit anderen
Positionen zu identifizieren - es gibt keine reale Alternative,
die ihnen angeboten wird. Und ich denke, daß das zu einer Art von
Politikverdrossenheit oder zu einer Passivität geführt hat, die
für eine lebendige Demokratie nicht gut ist. Und ich denke, daß
es wichtig ist, zu erkennen, daß wir nicht durch den Vorschlag eines
Modells von deliberativer Demokratie zu einem wirklich partizipatorischen
Niveau in der Politik zurückkehren werden; und auch nicht dadurch,
daß man sagt, daß die Leute zusammensitzen, diskutieren und versuchen
sollten, ein Argument zu verstehen. Ich denke, daß wir einen wirklichen
Kampf um verschiedene Positionen benötigen, um ein pulsierendes
demokratisches Leben zu führen. Und das nenne ich agonistischen
Pluralismus. Und selbstverständlich wird die radikale Demokratie
eine der Formen darstellen, in denen der Kampf stattfinden könnte,
weil ich diesen agonistischen Pluralismus als etwas ansehe, das
sich zwischen verschiedenen Vorstellungen von Staatsbürgerschaft
ereignet. Das radikaldemokratische Projekt ist nur eine Richtung,
die bestrebt ist, in diesem agonistischen Pluralismus hegemonial
zu werden. Aber auf dieser Ebene besteht der Unterschied nicht so
sehr hinsichtlich der verschiedenen politischen Projekte, wie weit
wir also das Prinzip von Freiheit und Gleichheit ausbreiten werden,
sondern in der Art und Weise, in der Politik in einer liberal-demokratischen
Gesellschaft begriffen wird, und in der Stellung, den der Antagonismus
in diesem theoretischen Projekt einnimmt.
IV. Das Konzept des Antagonismus
Angus: Dieses Konzept des Antagonismus,
das ihr hier im Kontext der radikalen Demokratie eingeführt habt,
ist sowohl in der Arbeit, die ihr zusammen geschrieben habt, als
auch in den jüngsten Arbeiten von euch beiden ein Schlüsselbegriff.
Wie würdet ihr das Konzept des Antagonismus erklären?
Laclau: Nun, ich würde sagen, daß der Antagonismus
von der klassischen soziologischen Theorie als etwas angesehen worden
ist, das nur innerhalb des Sozialen, innerhalb der Gesellschaft
erklärt werden kann. Die Weise, in der wir den Antagonismus begreifen,
ist, daß er die Grenze der sozialen Objektivität darstellt. Was
ich damit meine, ist, wenn es zum Beispiel einen Antagonismus zwischen
zwei Kräften gibt, wir dann sehen können, daß keine dieser beiden
Kräfte einen Diskurs führt, der mit dem anderen vereinbar ist. Jetzt
gibt es zwei Möglichkeiten, wie man sich gegenüber diesem Antagonismus
verhält. Entweder zu behaupten, daß der Antagonismus eine bloße
Erscheinung irgendeines objektiven zugrundeliegenden Prozesses sei,
der in seinen eigenen Begriffen erklärt werden kann. Oder wir können
behaupten, daß der Antagonismus die Grundlage bildet: jede Art von
sozialer Objektivität wird einfach dadurch erreicht, daß wir den
Antagonismus begrenzen. Wir haben nun in unserer Arbeit dem Antagonismus
diese grundlegende konstitutive Rolle bei der Errichtung der Grenzen
des Sozialen zugesprochen, während die meisten soziologischen Theorien
den Antagonismus im Gegenteil als etwas darstellen, das in Begriffen
von etwas anderem erklärt werden muß. Um dir ein Beispiel zu geben:
der klassische Marxismus behauptete, daß die Geschichte eine Geschichte
des Kampfes sei. In antagonistischen Gesellschaften, wo es Leiden
gibt, werden die sozialen Akteure die sozialen Prozesse daher als
irrational begreifen. Aber wenn wir Geschichte vom privilegierten
Standpunkt des Endes der Geschichte aus ansehen, dann wird sich
die Rationalität von all diesen Prozessen zeigen. Wir sehen dann
zum Beispiel, daß der Gang durch die Hölle aller antagonistischen
Gesellschaften notwendig war, um eine höhere Form zu erreichen,
die der Kommunismus ist. In diesem Fall wird der Moment des Elends,
der Opposition usw. zu einem bloßen Überbauphänomen reduziert, zu
einer Art und Weise, wie die Menschen diese Dinge erleben. Zum Beispiel
behauptete Hegel üblicherweise: "Die Geschichte ist nicht der Boden
für das Glück."5 Im Gegensatz dazu kannst du nun behaupten,
daß der Antagonismus wirklich konstitutiv ist: es gibt keine zugrundeliegende
Geschichtslogik, die durch sich selbst ausgedrückt wird, er geht
bis auf den Grund zurück. Diese zweite Auffassung, von der ich denke,
daß sie in vielen Fällen zu demokratischeren Ergebnissen führen
kann, weil sie stärker die wirklichen Gefühle und Wahrnehmungen
der historischen Akteure in Betracht zieht, ist näher an unserer
Auffassung.
Mouffe: Genau. Ich möchte hier etwas hinzufügen,
weil ich denke, daß es einen politischeren Aspekt des Antagonismus
und seiner Verbindung mit dem Problem des Liberalismus, aber auch
mit dem des Marxismus gibt. Ich denke, daß es da etwas gibt, selbst
wenn - wie es Ernesto theoretisch ausgedrückt hat - der Marxismus
von den Marxisten nicht wirklich ausreichend verstanden wurde, so
erkannten sie doch zumindest den Raum des Antagonismus in der Gesellschaft,
aber sie verorteten ihn ausschließlich auf der Ebene der Klassen.
Während es für den Liberalismus natürlich keinen Antagonismus in
der Gesellschaft gibt. Unter diesem Aspekt stellte folglich der
Marxismus hinsichtlich des Liberalismus einen Fortschritt dar. Sie
erkannten die Stellung des Antagonismus, aber sie schränkten ihn
auf die Klassenfrage ein. Demzufolge glaubten sie, daß der Antagonismus
möglicherweise abgeschafft werden könnte, sobald der Klassenkampf
beendet sein wird. In einem Sinne radikalisieren wir sozusagen den
Marxismus, indem wir die Frage des Antagonismus erstens nicht ausschließlich
auf der Klassenebene verorten - es gibt viel mehr Antagonismen.
Und natürlich wird hier die Frage der sozialen Bewegungen wichtig,
weil sie ein Ausdruck des Antagonismus sind. Zudem behaupten wir,
daß diese Antagonismen bzw. bestimmte Antagonismen abgeschafft werden
können, aber daß der Antagonismus als solcher niemals aus der Gesellschaft
entfernt werden kann. Während der Marxismus und der Liberalismus
an die Möglichkeit einer Gesellschaft ohne Antagonismus ? es handelt
sich natürlich um verschiedene Arten von Gesellschaften, aber es
gibt da diese Möglichkeit -, behaupten wir, daß es keine Möglichkeit
einer Gesellschaft ohne Antagonismus gibt.
Angus: Aber gibt es hier nicht ein Problem?
Das Projekt des Sozialismus besteht darin, das systembedingte Leiden
der Arbeiterklasse abzubauen und Hunger und Armut abzuschaffen.
Wenn ihr behauptet, daß der Antagonismus systemisch und konstitutiv
für die menschliche Gesellschaft ist und daß er nicht abgeschafft
werden kann, ist dies nicht gleichbedeutend mit der Behauptung,
daß wir uns nicht in die Kämpfe gegen Armut, Leiden, unmenschliche
Arbeitsbedingungen und Dinge dieser Art einbringen können?
Laclau: Ich denke nicht, daß man den Antagonismus
einfach auf ökonomische Ausbeutung reduzieren darf. Ich glaube,
daß man die ökonomische Ausbeutung auf vielerlei Arten ablösen kann.
Das bedeutet nicht, daß der Antagonismus als eine grundlegende ontologische
Bedingung von Gesellschaft endgültig beseitigt werden wird. Und
ich denke, daß es gut ist, daß er nicht endgültig beseitigt wird,
weil wir eine vollständig versöhnte Gesellschaft erlangen würden,
wenn der Antagonismus beseitigt, wenn das Prinzip der sozialen Teilung
nicht mehr da wäre. Und in dieser vollständig versöhnten Gesellschaft
würde es überhaupt keine Freiheit geben, weil jeder genau dieselben
Sachen denken würde. Gerade die Vorstellung einer Vielzahl von Standpunkten
verlangt die Präsenz des Antagonismus. Das bedeutet nun nicht, daß
ökonomische Ausbeutung immer vorhanden sein wird. Der Antagonismus
kann viele Formen annehmen. Aber der Hauptpunkt ist, daß die Ablösung
einer partikularen antagonistischen Form nicht, wie Chantal bereits
sagte, die Ablösung des Antagonismus als solchen zur Folge hat.
Und ich würde sagen, daß in diesem Zusammenhang der Marxismus zwei
völlig widersprüchliche Theorien vertritt. Entsprechend der ersten
stellt Geschichte den Prozeß der Entfaltung des Widerspruchs zwischen
den Produktivkräften und den Produktionsverhältnissen, also einen
objektiven Prozeß dar, der den Antagonismus auf den Überbau reduziert.
Entsprechend der anderen Theorie ist der Klassenkampf der Motor
der Geschichte. Diese beiden Theorien sind nun unvereinbar, weil,
wenn der Klassenkampf der wirkliche Motor des geschichtlichen Wandels
ist, es in diesem Fall keine rationale positive Logik geben kann,
wie es die erste Theorie vertrat. Hier hat Chantal, wie ich meine,
unser intellektuelles Projekt sehr zutreffend als die Radikalisierung
dieser antagonistischen Momente charakterisiert, die, so denke ich,
die besten Dimensionen innerhalb des Marxismus rettet.
Angus: Gibt es eine neue Vorstellung von
Politik in dem, was ihr hier mit Hilfe des Begriffs des Antagonismus
vorschlagt? Es scheint hier eine Bedeutung zu geben, in der der
politische Kampf noch eine Rolle spielt und einen Zweck hat, aber
dennoch scheint der Begriff eines Ziels, des endgültigen Ziels der
politischen Aktivität, neugefaßt zu werden. Ist es das, was ihr
meint?
Mouffe: Nun, ich würde wahrscheinlich sagen,
daß es genau die Idee eines endgültigen Ziels, das jemals realisiert
werden könnte, ist, die wir aufgeben. Weil die Idee einer radikalen
und pluralen Demokratie impliziert, daß jene völlig versöhnte Gesellschaft,
die das Ziel des Marxismus und vieler sozialistischer Kämpfe war,
niemals erreicht werden kann. Und, wie ich gesagt habe, ist dies
wirklich nicht etwas, was wir als negativ ansehen sollten, und es
gibt keinen Grund, darüber betrübt zu sein. In Wahrheit ist es etwas,
das begrüßt werden sollte, weil dies die Garantie dafür ist, daß
der demokratische pluralistische Prozeß am Leben gehalten werden
wird. Wenn wir nämlich von der Vorstellung ausgehen, daß es eine
Möglichkeit gibt, eine harmonische Gesellschaft - eine vollständig
harmonische Gesellschaft - zu realisieren, auch wenn das als eine
regulative Idee betrachtet wird, steckt darin eine gewisse Gefahr.
Weil das in Wahrheit bedeutet, daß das Ideal einer demokratischen
Gesellschaft eine Gesellschaft darstellen wird, in der es keinen
Pluralismus mehr geben wird, weil Pluralismus die Möglichkeit impliziert,
daß das existierende Arrangement in Frage gestellt und daß das Machtverhältnis
unaufhörlich umkämpft wird. Aber wenn du voraussetzt, daß es eine
Möglichkeit eines Endpunktes, eines Ziels, gibt, in der es keine
Form von Macht oder Herrschaft mehr geben wird, dann denke ich,
daß in diesem Augenblick die Menschen die existierenden Institutionen
natürlich nicht in Frage stellen können, weil diese Institutionen
die Verkörperungen von Gerechtigkeit oder von Demokratie darstellen
werden. Ich denke, daß es genau das ist, was ich zum Beispiel an
Liberalen wie John Rawls oder im Werk von Habermas kritisiere, indem
ich zeige, daß sie entgegen ihrer Absicht, die eigentlich darin
besteht, die Bedingungen des Pluralismus zu denken, in Wahrheit
ein selbstzerstörerisches Argument präsentieren, weil sie gerade
durch die Behauptung der Möglichkeit eines rationalen Konsenses
die Vorstellung eines demokratischen, pluralistischen Prozesses
untergraben. Und natürlich stellen sie sich auch - und das ist der
Punkt, der theoretisch wichtig ist - eine Gesellschaft vor, aus
der das Machtverhältnis verschwunden sein wird, was in der Tat unmöglich
ist, weil, wenn wir, wie wir argumentiert haben, akzeptieren müssen,
daß Machtverhältnisse für das Soziale konstitutiv sind, kannst du
dir keine Gesellschaft vorstellen, in der es kein Machtverhältnis
geben wird. Und dies stellt tatsächlich einen sehr entscheidenden
Aspekt unseres Arguments zu Antagonismus und Politik dar - diese
Anerkennung, daß Macht für das Soziale konstitutiv ist.
Angus: Folglich ist eure Theorie des Antagonismus
eine Radikalisierung der Fokussierung auf den Konflikt innerhalb
des Marxismus, und sie schlägt vor, daß es keinen endgültigen Moment
gibt, an dem der Konflikt beseitigt werden wird. Die Frage, die
ich euch stellen möchte, lautet: Wie denkt ihr den Antagonismus
mit Hilfe der Vorstellung von der Grenze des Sozialen? Könnt ihr
mir ein Beispiel geben, wie die Grenze des Sozialen innerhalb der
Erfahrung von jemandem zu einem tatsächlich vorhandenen Phänomen
werden kann?
Laclau: Okay. Laß mich das Problem folgendermaßen
darstellen. Es gibt viele soziale Situationen, in denen irgendeine
Art von Entscheidung über das kollektive Leben der Gemeinschaft
getroffen werden muß. Nun würde ich behaupten, daß diese Entscheidungen
niemals Entscheidungen sind, die vollkommen rational sind, denn,
wenn sie Entscheidungen wären, die vollkommen rational sind, würden
sie völlig offensichtlich sein und es würde keine Entscheidung wirklich
benötigt werden. Wenn eine Entscheidung benötigt wird, bedeutet
dies, daß der Gang der Ereignisse durch andere als durch völlig
rationale Motive bestimmt wird. In diesem Fall würden viele Leute
Entscheidungen getroffen haben, die unterschiedlich sind. In diesem
Fall wird, wenn eine Entscheidung getroffen wird, diese Entscheidung
notwendigerweise mit der Entscheidung von anderen Gruppen in Konflikt
geraten. Deshalb kannst du nicht behaupten, daß die Gesellschaft
als Ganzes, der soziale Prozeß als Ganzer, sich in eine Richtung
bewegt, die durch ihre zugrundeliegenden Strukturen festgelegt wird.
Was du hast, ist die Tatsache, daß hier eine äußere Intervention
notwendig wird. Hier findet die soziale Objektivität also ihre Grenzen.
Und ich würde behaupten, daß das Politische die Grenzen des Sozialen
bildet. Wir hatten eine verdrehte Vorstellung von Gesellschaft,
die das Ergebnis von fast einem Jahrhundert soziologischer Theorien
über das Soziale darstellt. Seit dem Niedergang der politischen
Philosophie am Ende des 18. Jahrhunderts haben wir eine Tendenz,
das Politische als ein Moment innerhalb des Sozialen zu erklären
- das Politische wäre, abhängig vom theoretischen Standpunkt, entweder
ein Überbauphänomen, oder ein Subsystem, usw., aber die Gesellschaft
wird aufgrund ihrer eigenen Gesetzmäßigkeiten als eine Art von universal
begründendem Prinzip angesehen. Wenn wir von der Grenze des Sozialen
als etwas sprechen, das der Gesellschaft innerlich ist, dann bereiten
wir die Basis für eine Wiederkehr des Politischen als dem gründenden
Moment des Sozialen vor. Und dies verlangt, wie ich vorhin sagte,
daß das antagonistische Moment hier gegenwärtig ist - der soziale
Konflikt ist da, nämlich als ein ursächliches Moment, er stellt
nicht das Ergebnis von etwas anderem dar.
Mouffe: Genau, und es ist in der Tat in
diesem Kontext, daß ich vorgeschlagen habe, zwischen "dem Politischen"
und der Politik zu unterscheiden. Und ich denke, daß das zu dem
führt, wonach du vorhin gefragt hattest, nämlich, ob es eine neue
Theorie der Politik in unserem Werk gibt. Tatsächlich würde ich
behaupten, daß es in vielen Kontexten der liberalen Theorie zum
ersten Mal eine Theorie der Politik gibt - ich würde nicht behaupten,
daß es eine neue ist, weil es keine alte gab, und das hat das Problem
mit dem Liberalismus dargestellt. Diese Unterscheidung besteht einmal
darin, Platz für die Anerkennung dieser antagonistischen Dimension
zu schaffen, von der wir vorhin gesprochen hatten. Mit dem Begriff
des Politischen schlage ich vor, daß wir diese Dimension des Antagonismus
verstehen, die eine ständig gegenwärtige Möglichkeit innerhalb der
sozialen Verhältnisse darstellt. Ich behaupte nicht, daß alle sozialen
Verhältnisse immer antagonistisch konstruiert werden. Das ist gewiß
nicht der Fall, aber es ist immer eine ständig gegenwärtige Möglichkeit.
Und es ist diese Dimension, die "das Politische" genannt wird. Im
Gegensatz dazu besteht "Politik" in dem Versuch, eine Ordnung herzustellen
und das menschliche Zusammenleben zu organisieren - unter Bedingungen,
die potentiell immer konfliktgeladen sind, weil es diese Dimension
des Antagonismus gibt. Sobald man das Problem auf diese Weise zu
stellen beginnt, denke ich, daß es erforderlich ist, den demokratischen
Kampf auf eine andere Weise zu verstehen, weil der demokratische
Kampf, wie ich es gelegentlich formuliere, versuchen wird herauszufinden,
wie man einen Antagonismus in einen Agonismus umwandeln kann. Hiermit
meine ich in der Tat, wie wir einen Antagonismus hegen, wie wir
ihn mit einem demokratischen Kampf vereinbar machen können. Oder,
um es in einer anderen Art und Weise auszudrücken, wie wir ein Freund-Feind-Verhältnis
in ein Gegnerschaftsverhältnis umwandeln können, weil der Gegner
jemanden darstellt, der in einer gewissen Hinsicht als gleichberechtigt
angesehen wird, und zwar in dem Sinne, daß wir nicht sein oder ihr
Recht in Frage stellen werden, seine bzw. ihre Position zu verteidigen.
Sie sind ein Teil der demokratischen Gemeinschaft und sie sind ein
Teil der Konfrontation, während ein Feind natürlich jemand ist,
dem du das Recht, seine Differenzen auszudrücken, verwehrst. Dies
ist selbstverständlich mit der Idee des agonistischen Pluralismus
verbunden: der agonistische Pluralismus findet zwischen Gegnern
statt.
V. Die extreme Rechte
Angus: Euer eigenes Werk wurde teils als
eine Kritik des Marxismus und teils als eine Aneignung und Radikalisierung
des Marxismus durch die Vorstellung des Antagonismus entwickelt,
und nun sind in den letzten Jahren die großen politischen Erfolgsgeschichten
keine Erfolgsgeschichten der Linken, sondern der Rechten. Haben
die jüngsten Erfolge der Rechten sowohl in Europa als auch in Amerika
euch veranlaßt, euer Denken zu revidieren? Wie interpretiert ihr
den Aufstieg der Rechten? Seht ihr sie als eine soziale Bewegung
an?
Mouffe: Ich möchte hier eigentlich diese
Kategorie der Rechten sozusagen dekonstruieren, weil ich nicht sicher
bin, ob wir dasselbe meinen. Heutzutage befasse ich mich nicht mit
der Rechten, sondern mit der extremen Rechten. Ich denke, daß dies
heutzutage in Europa wirklich die Gefahr darstellt. Und ich würde
die neueste Situation in Europa nicht als einen Sieg der Rechten
ansehen. Es ist wahr, daß die Rechte in vielen Ländern an der Macht
ist - die Rechte ist in Frankreich nur nach einer langen Phase des
Sozialismus an die Macht gekommen, sie ist in vielen anderen Ländern
an der Macht, vermutlich wird sie in Spanien an die Macht kommen,
sie ist in Italien an der Macht und dürfte glücklicherweise in Großbritannien
die Macht verlieren. Aber egal, für mich scheint das Problem darin
zu liegen, daß dasjenige, was ich die demokratische Rechte nenne,
wie ich denke, in keiner besseren Verfassung als die Linke ist.
Weil ich der Meinung bin, daß das Modell von Thatcher, daß diese
triumphierenden Jahre der Rechten zu Ende sind. Weil die Rechte,
die demokratische Rechte, tatsächlich mit einem Problem konfrontiert
ist, für das sie keine Lösung hat. Ihr neoliberales Modell funktioniert
nicht. Von diesem Standpunkt aus ist der Fall von Großbritannien
sehr interessant, weil das Thatcher-Experiment fehlgeschlagen ist.
Dies wird völlig anerkannt. Dafür gibt es keine Alternative auf
der Rechten. In vielen europäischen Ländern stehen die rechten Parteien
der gleichen Situation gegenüber. Ich denke, daß sowohl die Linke
als auch die Rechte wirklich nicht wissen, wie die gegenwärtige
Situation anzugehen ist. Und das ist der Grund, warum die extreme
Rechte diejenige ist, die heutzutage das Terrain besetzt. Wenn du
dir die Bewegung anschaust, die sich ausbreitet, dann ist es die
extreme Rechte: in Frankreich, Italien, Österreich, Belgien, Dänemark;
dies ist der Trend, der sich in Szene setzt. Und das ist natürlich
äußerst gefährlich, weil dies etwas darstellt, was genau die Grundlage
des liberal-demokratischen Modells, wie wir es bisher kennengelernt
haben, in Frage stellt. In einem gewissen Sinne finde ich die Situation
wirklich beunruhigender als diejenige, die ein einfacher Sieg der
Rechten über die Linke zur Folge haben würde.
Angus: In Begriffen eurer politischen Theorie
ausgedrückt, würde die Rechte das Gegnerschaftsverhältnis zwischen,
sagen wir, der konservativen Partei und Labour in Großbritannien
besetzen und es in eine Freund-Feind-Beziehung verwandeln, die die
Fundamente der liberalen politischen Ordnung bedrohen würde. Ihr
würdet das also als die größte Gefahr ansehen?
Mouffe: Genau, weil ich nicht denke, daß
es eine Möglichkeit eines Gegnerschaftsverhältnisses zu der extremen
Rechten gibt. Dies sind die Feinde, während das Gegnerschaftsverhältnis
nur zwischen der Linken und der demokratischen Rechten stattfinden
kann. Ich glaube, daß ich dies zu erklären versucht habe, weil es
für mich ein Phänomen darstellt, das äußerst wichtig ist. Es gibt
heutzutage eine reale Dringlichkeit, die Ansprüche der Rechten zu
verstehen zu versuchen, um in der Lage zu sein, eine Alternative
anzubieten. Ich denke, daß einer der Gründe, warum es solch eine
Volksmobilisierung um die extremen rechten Parteien herum gibt,
ist, daß die demokratische Linke und Rechte nicht in der Lage sind,
das in Szene zu setzen, was ich agonistischen Pluralismus nenne.
In Wahrheit sind sie von irgendeiner Art von Konsens-Modell und
von der Idee, daß Politik im Zentrum stattfinden sollte, angezogen
worden. Dies war besonders deutlich in Frankreich, als die Sozialisten
an die Macht kamen, da sie aktiv auf ihren jakobinischen Typ von
Politik verzichtet haben, der hinsichtlich des Freund-Feind-Verhältnisses
sehr ausgeprägt war. Und das war etwas Positives. Aber sie waren
nicht in der Lage, in Begriffen von Gegnerschaft zu denken. Sie
fielen vollkommen in das traditionelle liberale Modell des Wettbewerbs
zurück. So war es eine Frage von "ihr wißt doch, wir haben unsere
Interessen, unser bürokratisches System und unsere Eliten, die wir
an die Macht bringen wollen", aber es gab überhaupt keinen Versuch,
die Hegemonie umzuformen, die Machtverhältnisse umzudrehen. So ist
es vor allem eine Art von Kampf gewesen, der im politischen Zentrum
zwischen den verschiedenen Parteien verortet war, die keine Art
von Alternative anboten. Es gab keine Konfrontation. Und ich denke,
daß dies in hohem Maße auf der einen Seite die Unzufriedenheit von
vielen Menschen mit diesen Parteien in Frankreich und das Wachstum
der fundamentalistischen Bewegungen erklärt, Bewegungen, in denen
das, was ich Leidenschaften nenne, nicht in Richtung auf das demokratische
Design hin mobilisiert wird; und auch die Tatsache, daß die extreme
Rechte diejenige ist, die Leidenschaft mobilisiert, weil sie eine
Alternative anbietet. Und ich denke, daß es deshalb so wichtig ist,
anzuerkennen, daß, wenn wir demokratische Kanäle, demokratische
Wege für die Leidenschaft, sich selbst auszudrücken, anbieten wollen,
man auf dieses konsenszentrierte Modell von Politik verzichten und
die agonistische Gegnerschaft wiederbeleben muß. Ich denke, daß
diese Verwischung der Unterscheidung zwischen links und rechts,
von der wir in Europa Zeugen wurden und die von vielen Menschen
gefeiert wurde, indem sie erklärten, wie sehr wir nun zur Reife
gelangen würden und wie sehr dies einen Fortschritt für die Demokratie
darstelle - daß dies für die Demokratie katastrophal ist, weil dies
das Terrain hervorbringt, auf dem die extreme Rechte beginnt, Fuß
zu fassen.
Laclau: Genau, weil, sobald du unerfüllte
Forderungen von Menschen und die Notwendigkeit eines oppositionellen
Diskurses hast und dieser Diskurs nicht verfügbar ist - also durch
die Politik der Befriedung, des Konsenses usw. ersetzt wird -, es
dann geschieht, daß die Notwendigkeit einer radikalen Konfrontation
mit dem System wichtiger wird als die Begriffe, mit denen diese
Konfrontation ausgetragen wird. Beispielsweise wurden viele soziale
Kräfte, die die klassische Wählerschaft der Kommunistischen Partei
in Frankreich bildeten, einfach deshalb zu Unterstützern von Le
Pen, weil der alte Radikalismus des linken Adels, wie sie ihn nennen,
durch nichts ersetzt wurde. Was wir demzufolge, wie ich denke, in
Nordeuropa haben, ist heutzutage ein weltweites Phänomen. Es ist
eine Art von Erschöpfung der Ideologien, die während einiger Perioden
die linksgerichteten oder progressiven Strömungen dargestellt haben.
Sie sind zerfallen, weil es die historischen Voraussetzungen nicht
mehr gibt, und ein neuer fundamentalistischer Typ von Diskurs hat
diesen Platz eingenommen. Im Fall des Mittleren Ostens ist dies
vollkommen offensichtlich. In den Jahren nach dem Zweiten Weltkrieg
war die herrschende progressive Ideologie der arabische Nationalismus.
So wurde der arabische Nationalismus um den Nationalstaat herum
errichtet, um die neuen Nationalstaaten, die im Mittleren Osten
auftauchten. Als zum Beispiel Pakistan als eine islamische Nation
in Erscheinung trat, wurde es von allen kritisiert, weil alle behaupteten,
daß ein islamischer Nationalstaat ein Widerspruch in sich sei. Heute,
mit der Pattsituation im Mittleren Osten, bricht der arabische Nationalismus
als herrschende Ideologie überall zusammen, und dieser Raum wird
durch den islamischen Fundamentalismus einfach deshalb eingenommen,
weil es viele unerfüllte Forderungen gab, die eine Art von radikaler
Antwort verlangen.
Angus: Also, die Opposition zum System als
Ganzem hat in den letzten Jahren dazu tendiert, eher von der Rechten
als von der Linken her zu erfolgen. Wie passen die korporatistische
Tagesordnung oder die neoliberale Tagesordnung der Verantwortlichkeit
für die Finanzen mit diesem Bild der zeitgenössischen Politik zusammen?
Laclau: Ich würde behaupten, daß sowohl
das korporatistische als auch das neoliberale Modell als Versuche,
das politische System zu überformen, in hohem Maße gescheitert sind.
Die 80er Jahre waren die Jahre eines Rechtsrucks der etablierten
Parteien. Es waren die Jahre des Reaganismus, die Jahre des Thatcherismus
und so weiter und so fort. In gewissem Sinne waren dies die letzten
utopischen Jahre, weil die Idee einer utopischen Politik nicht nur
zu der Linken, sondern auch zu der Rechten gehört. Wir hatten, hervorgebracht
durch den Neoliberalismus, eine Art Blaupause der Gesellschaft,
die angewandt werden sollte. Heutzutage sind die Menschen damit
übersättigt. Die Idee einer Blaupause der Gesellschaft und eine
utopische Politik entlang dieser Linien, entweder von Seiten der
Rechten oder der Linken, werden sehr stark in Frage gestellt. Und
in gewisser Hinsicht werden sie alle infolge des Erscheinens des
neuen Fundamentalismus, auf den wir hingewiesen haben - durch eine
Art von Issue-Politik, Mikro-Politik, ersetzt. Aber die großen
Entwürfe wie die Great Society, der New Deal oder
das neoliberale Modell sind nicht mehr anwesend.
Mouffe: Wenn wir gerade vom Korporatismus
sprechen, der vielleicht das beste Modell dieser Art von Konsens-Ansatz
darstellt, so denke ich, daß er offensichtlich etwas ist, das ebenfalls
an vielen Orten das Terrain für die extreme Rechte hervorgebracht
hat. Ich denke zum Beispiel an Österreich, das das korporatistische
Modell par excellence darstellte, wo wir seit vielen Jahren
einen Zusammenschluß zwischen den Konservativen und den Sozialdemokraten
hatten und wo natürlich die Partei von Jörg Haider heutzutage äußerst
wichtig ist, gerade weil sie die einzige ist, die eine radikale
Alternative anbietet. Mit den letzten Wahlen, die an die Sozialdemokraten
ging, wird sie natürlich noch stärker werden. Diese Situation mag
schlecht gewesen sein, aber die Partei, die heute in Österreich
offensichtlich auf dem Vormarsch ist, ist die der Freiheitlichen
von Haider, und sie artikuliert sehr gut die Unzufriedenheit mit
dem korporatistischen Modell, die in Österreich vorhanden ist.
VI. Ein hegemoniales Modell der Politik
Angus: Eurer Analyse der zeitgenössischen
politischen Ereignisse liegt die Theorie der Hegemonie zugrunde,
die ihr seit einigen Jahren entwickelt habt. Könnt ihr mir nun in
allgemeineren Begriffen den Beitrag erklären, den eurer Meinung
nach die politische Philosophie und die Philosophie im allgemeinen
zu den politischen Problemen oder den politischen Bewegungen leisten
kann?
Laclau: Nun, ein hegemoniales Modell von
Politik, wobei ich annehme, daß letzten Endes alle Politik in gewissem
Maße hegemonial ist, besteht aus einem Prozeß, der auf pragmatische
Weise Sachen oder Vorkommnisse zusammensetzt, die in dieser Weise
nicht notwendigerweise zusammenfallen müssen. Er enthält eine kontingente
Intervention. Um dir ein Beispiel zu geben: am Ende des Zweiten
Weltkrieges gab es innerhalb der Kommunistischen Partei Italiens
eine Diskussion darüber, wie die Partei in der Nachkriegsepoche
aufgebaut sein sollte. Und es gab zwei Strömungen: eine, die sagte,
daß die Partei die Partei der Arbeiterklasse sei. Also werde sie
die Partei sein, die eine Enklave im industrialisierten Norden repräsentiere,
und sie werde vollkommen außerhalb der Welt des Mezzogiorno und
allem, was mit ihr verbunden sei, leben. Die andere Position, die
mehr Gramscianisch war und die schließlich durch die Führung von
Palmiro Togliatti übernommen wurde, verneinte dies und sagte, daß
man die Partei im Süden aufbauen sollte, wie schwach die Arbeiterklasse
dort auch immer sei. Sie behaupteten, daß es die Voraussetzung der
Partei und der Gewerkschaft sein werde, das Zentrum einer Vielfalt
von sozialen Initiativen darzustellen: der Kampf gegen die Mafia,
der Kampf für schulische Einrichtungen usw. Der Kommunismus wurde
so am Ende das vereinigende Symbol einer Vielfalt von Kämpfen, die
in sich selbst keine Notwendigkeit aufwiesen, auf diese Weise zusammenzufallen
- es gab kein strukturelles Gesetz, das sie in diese Richtung drängte.
Der Beweis dafür besteht darin, daß es in einigen anderen Bereichen
die Advokaten der Christdemokraten waren, die diese Artikulationsrolle
produzierten. Aber sobald diese Artikulationsrolle erfolgreich war,
schaffte sie es, für eine ganze historische Epoche eine gewisse
Konfiguration von verbündeten Kräften hervorzubringen usw. Dies
ist ein Beispiel dafür, um was es bei der hegemonialen Politik geht.
Wie du siehst, richtet sich dieses Konzept sehr stark gegen die
Vorstellung eines strikten Interesses, das festlegt, welche Form
von Politik zum Vorschein kommen wird. Es enthält eine strategische
Bewegung, die immer flüchtig, instabil und ausgehandelt ist.
Mouffe: Hier ist es wichtig, wie ich denke,
auf der Tatsache zu beharren, daß diese hegemoniale Politik natürlich
von der Rechten genausogut wie von der Linken in die Praxis umgesetzt
werden kann. So entspricht das Beispiel, das Ernesto in bezug auf
Italien gegeben hat, genau dem, was wir heute bezüglich des Anwachsens
der islamischen fundamentalistischen Bewegung wahrnehmen. In vielen
Ländern - nehmen wir beispielsweise den Fall der Türkei, wo der
Aufstieg der Refâh Partisi sehr einschneidend gewesen ist - wird
ein ähnlicher Typ von Hegemonie wie in Italien artikuliert, indem
sie Organisationen anbieten und eine Reihe von Verbindungen innerhalb
der Zivilgesellschaft herstellen. Gerade weil sie eine Alternative
zur Regierung anboten, waren sie in der Lage, wirklich eine sehr
solide Grundlage innerhalb der Zivilgesellschaft, die genau diesem
Modell folgt, zu errichten. Zu einem gewissen Grad gilt dasselbe
für Algerien. Das Anwachsen der FIS in Algerien erfolgte exakt nach
demselben Modell. Darum ist es für die Linke wichtig, endgültig
zu begreifen, daß das die Art und Weise darstellt, wie sie eine
Art von demokratischem Bündnis herstellen kann, weil, wenn sie es
nicht tut, es die anderen Parteien sind, die es tun.
Laclau: Traditionellerweise waren beispielsweise
die Muslimbrüder eine Massenbewegung, und zwar nicht einfach auf
der Grundlage der Agitation, sondern auf der Grundlage der Organisation
einer Vielfalt von Institutionen, die für die Menschen die Grundlage
für soziale Sicherheit, kulturelle Teilhabe, Entspannung usw. bildeten,
so daß sie am Ende zu einem Staat im Staate wurden. Später wurden
sie durch Nasser zerstört, sobald sich aber in den islamischen Ländern
ein Fundamentalismus ausbreitet, tut er dies auf der Grundlage dieses
Modells. Und ich habe dieses Modell auch sehr oft in der Vielfalt
der populistischen Bewegungen in Lateinamerika am Werk gesehen,
wie in Peru, wie der Perónismus in Argentinien in den 40ern usw.
Angus: Hegemonie stellt also eine Anzahl
von unterschiedlichen politischen Elementen zusammen, die nicht
notwendigerweise miteinander verbunden sind, aber durch eine Artikulation
zusammengesetzt werden. Auf der Ebene der Philosophie wart ihr jüngst
daran interessiert, dies durch das Konzept der Unentscheidbarkeit
zu theoretisieren. Was könnt ihr uns in Kürze über dieses Konzept
der Unentscheidbarkeit in der Philosophie sagen, und in welchem
Verhältnis steht es zu der Theorie der Hegemonie?
Laclau: Das Konzept der Unentscheidbarkeit
hat sich eigentlich aus einer Vielfalt von Vorkommnissen innerhalb
des allgemeinen Spektrums von dem, was als Poststrukturalismus bezeichnet
worden ist, entwickelt. Aber laß uns annehmen, daß wir die dekonstruktivistische
Alternative wählen. Der Dekonstruktivismus zeigt, daß viele Strukturen,
viele Kategorien, die sich selbst als geschlossene Kategorien darstellen,
in Wahrheit von inneren Aporien durchdrungen sind, so daß die gegenwärtige
Konfiguration, die sie zeigen, in Wahrheit viele verschiedene Alternativen
verbirgt, die unterdrückt werden. Sobald du dies ans Licht bringst,
zeigst du auch eine Vielzahl von strategischen Entwicklungen, die
denkbar wird. Ich würde also sagen, daß die Dekonstruktion den Bereich
der Unentscheidbarkeit innerhalb der sozialen Verhältnisse vergrößert,
die einer politischen Intervention bedürfen, aber gleichzeitig bedarf
dies einer Theorie der Entscheidung: wie eine Entscheidung innerhalb
eines unentscheidbaren Terrains zu treffen ist. Und das ist, was
die Theorie der Hegemonie zu tun versucht. Ich denke zum Beispiel,
daß Gramsci - wir sprachen vorhin darüber - eine Menge dazu beigetragen
hat, was das Aufzeigen der sozialen Elemente als etwas betrifft,
das nur eine kontingente Artikulation hat. In diesem Sinne erweiterte
er das Feld der Struktur und der Unentscheidbarkeit und begriff
Hegemonie als den Moment der Entscheidung. Aber er wurde durch eine
Ontologie der Klassen eingeschränkt, mit der diese Dimension von
Unentscheidbarkeit nur bis zu diesem Punkt ausgedehnt werden konnte.
Aber innerhalb der zeitgenössischen Gesellschaft mit dem Phänomen
der Globalisierung, mit dem Phänomen der kombinierten und ungleichen
Entwicklung und mit dem Phänomen der sozialen Fragmentierung benötigen
wir unbedingt eine radikalere Konzeption der Unentscheidbarkeit
als die, die zur Zeit Gramscis vorhanden war. Und ich denke, daß
die Dekonstruktion und der Poststrukturalismus in diese Richtung
vordringen.
Angus: Vielen Dank. Es war eine Freude,
mit euch heute nachmittag zu sprechen. Ich könnte mich mit euch
beiden noch viel länger unterhalten, aber wir werden es an dieser
Stelle beenden müssen. Vielen Dank für die Beantwortung meiner Fragen.