Warum wir nie Sozialisten gewesen sind und was uns am Marxismus nicht zufriedenstellt

von Maurizio Lazzarato

Wer schafft den Reichtum und wie produziert man ihn? Was sind die Quellen und die Kräfte der Produktion von neuen Werten? Auf welcher Basis kann man die Verteilung des Reichtums organisieren und legitimieren? Das sind die Fragen, die man heute wieder wie am Anfang der politischen Ökonomie stellen muß, weil die Veränderung, die seit 30 Jahren im Gange ist, nur auf der Basis der Veränderung des Paradigmas verständlich ist, die die Grundlagen der ökonomischen Wissenschaft und des Marxismus in Frage stellt.

Ausgangspunkt meiner Überlegungen sind die Schriften von Gabriel Tarde, der die Produktion von Reichtum in radikal anderer Weise konzipiert hat. Gabriel Tarde hat seine Reflexionen am Ende des 19. Jhds. parallel zur Krise der klassischen politischen Ökonomie und der Entstehung der neoklassischen entwickelt. Zu diesem Zeitpunkt tiefer Veränderungen in der ökonomischen Theorie kritisierte Tarde sowohl die Bestimmung des Werts durch die Arbeit als auch die durch den Gebrauch. Einerseits griff er Smith, Ricardo und Marx an, andererseits den Utilitarismus eines Bentham und den Begriff des Grenznutzens der neoklassischen Ökonomie, deren Prinzipien er durch die Schriften von Jevons und Böhm-Bawerk in der Revue Philosophique kannte, an der er mitarbeitete. Das Werk von Tarde kann auf die politische Philosophie und Ökonomie vor Adam Smith zurückgeführt werden, die sich mit Machiavelli die Aufgabe stellte, die soziale Teilung als politisches Problem der Moderne zu lösen. Die Frage der Produktion des Reichtums eröffnet nicht nur eine neue soziale Wissenschaft - die Ökonomie -, sondern bestimmt auch den Ort, wo sich die Gegensätze formen, die jederzeit in einen Bürgerkrieg überzugehen drohen.

Tarde führt eine neue Konzeption des Zyklus der Wertproduktion und der Produktion von Reichtum ein. Die politische Funktion des Begriffs der produktiven Arbeit steht im Zentrum der Neuformulierung des Begriffs des Werts bei Tarde. Wie kann Tarde auf dieselbe Weise Smith, Ricardo und Marx kritisieren?

Die klassische politische Ökonomie ist eine Theorie der Produktion des Profits, während die Kritik von Marx eine Theorie der Ausbeutung formuliert. Unter diesem Gesichtspunkt sind die beiden Theorien des Arbeitswerts einander radikal entgegengesetzt. Aber sie stimmen in einem wichtigen Punkt überein. Sie betrachten die Arbeit, oder genauer das Verhältnis von Kapital und Arbeit als Quelle der Produktion des Werts und als Ursprung der kapitalistischen Dynamik: der Produktion von Mehrwert. Die Gemeinsamkeit besteht in dem Konzept der produktiven Arbeit als der Arbeit, die sich mit dem Kapital austauscht. Marx präzisiert lediglich Smiths Definition der produktiven Arbeit, insofern für Marx die Bestimmung der produktiven Arbeit nicht von der Natur der Tätigkeit abhängt, sondern sich allein aus ihrem Verhältnis zum Kapital ergibt. Marx behauptet, daß auch die Arbeit von Prostituierten, Komödianten und Lehrern als produktive Arbeit zu bezeichnen ist, wenn sie sich mit Kapital austauscht, und nicht mit Revenue. Es ist also die Relation von Kapital und Arbeit, die die Arbeit produktiv macht und den Mehrwert hervorbringt.

Diese der politischen Ökonomie und dem Marxismus gemeinsame Behauptung kritisiert Tarde. Die Quelle des Werts und der kapitalistischen Dynamik ist weder die Arbeit noch das Kapital, sondern die Innovation und die Kooperation. Die Ökonomisten haben den Fehler gemacht, die Innovation der Arbeit zuzuschlagen und das materielle Kapital mit dem intellektuellen Kapital zu verwechseln. So haben sie auch unter dem Wort Produkt sowohl die materiellen als auch die immateriellen Produkte erfaßt (und zwar haben sie die Erfindungen mit ihrer Verteilung identifiziert).

"Der fundamentale Impuls" (Schumpeter), der die ökonomische Maschine bewegt, sind die Invention und die Kooperation, die Tarde synonym verwendet, insofern sie auf eine immer neue Weise die "hypopsychischen" (Meinungen, Wünsche, lebendige und intellektuelle Kräfte als "infra-soziale" Kräfte) mit den "hyperpsychischen" Kräften (die Kombinationen von Wünschen, Meinungen, lebendigen und intellektuellen Kräften als "supra-soziale" Kräfte) verbinden. Und durch diese Verbindung werden neue Kombinationen, neue Nutzanwendungen und Gebrauchsweisen der Produkte der Menschen und ihrer Relationen entdeckt. Und auf diese Weise wird ein Surplus geschaffen.

Tarde verleiht der Kooperation den gleichen Rang wie der Invention, weil er kein ausschließlich kognitives Konzept von Invention hat. Die Kreation von etwas Neuem beruht immer zugleich auf der Fähigkeit der Adaption und der Kombination von Kräften. "Das Wesentliche einer Invention ist, die Verbindung von Kräften herzustellen, die vor der Invention einander entgegengesetzt waren. Die Invention ist eine Assoziation von Kräften, die sich an die Stelle einer Opposition oder sterilen Gegenüberstellung der Kräfte setzt."1

Für Tarde fängt, im Gegensatz zur klassischen politischen Ökonomie, der Zyklus der Produktion des Werts nicht mit dem Kapital oder der Arbeit an, sondern mit der Invention oder der Kooperation. Diese sind Ereignisse, Singularitäten, die an sich keinen Wert haben. Sie ist eine singuläre Kombination von intellektuellen und physischen Kapazitäten, die als solche eine "psychologische Quantität" darstellt. Tarde bemerkt, daß man vom Wert nur sprechen kann, wenn an einer Invention mehrere teilhaben bzw. die Invention etwas Gemeinsames zwischen ihnen herstellt. Nur unter dieser Bedingung kann man von Wert oder von "sozialer Quantität" sprechen.

Man muß also den Akt der Kreation, der eine Singularität, eine qualitative Differenz ist, von seinem Prozeß der Verbreitung trennen, der dem, was an sich kein Wert ist, einen Wert verleiht und aus der qualitativen Differenz eine "soziale Quantität" macht. Die Formation des Werts hängt also zugleich von der Invention und ihrer Verbreitung, von der Aktualisierung eines Virtuellen und seiner sozialen Realisierung ab. Diese, die die Invention in Wert oder "soziale Quantität" transformiert, setzt ihre Wiederholbarkeit oder Reproduzibilität voraus und damit die Homogenität der Meinungen und Wünsche, der verschiedenen Willen und Intellekte, die sie und ihre Kommunizierbarkeit konstituieren. Nur wenn die Meinungen, Wünsche, Motive und Gedanken homogen sind, sind sie auch kommunikabel.

Die Verbreitung eines neuen Produkts z. B. impliziert einerseits die Reproduzibilität der Prozesse und der Akte der Fabrikation und die Reproduzibilität der Akte der Konsumtion und der Bedürfnisse, die dieses Produkt befriedigen soll, und andererseits seine Kommunizierbarkeit.

Tarde zufolge trägt jede Tätigkeit, die zur Verbreitung der Invention und der Kooperation beiträgt, auch zur Konstitution ihres Werts bei. Sicher trägt die "industrielle Arbeit" entscheidend zur Konstitution des Werts einer Invention, zu ihrer Transformation aus einer "psychologischen" in eine "soziale Quantität" bei, nämlich einerseits durch die Homogenisierung (Standardisierung) der Fabrikationsprozesse, der Akte der Produktion und der Produkte, und andererseits durch ihre Formen der Kommunikation (Markt, Tausch, Konkurrenz). Also hat die Tätigkeit der Arbeiter und der Kapitalisten teil an der Konstitution des Werts. Aber diese Tätigkeit ist weder die logische und reale Quelle der Invention und der Kooperation, noch die ausschließliche Form, die die Verbreitung der Invention oder der Assoziation und also die Formation des Werts garantiert.

Nach Tarde tragen die Konversation, die Werbung, die Kommunikation, die Presse, die öffentliche Meinung, die Schule, die Mode und die Sitten, die Städte und ihre "soziale Dichte" zur Verbreitung der Meinungen und der Wünsche, der Motive und der Gedanken bei, die eine ähnliche Bedeutung für die Konstitution der Produktion und der Konsumtion haben wie die industrielle Arbeit. Alle diese Dispositive garantieren einerseits die Konstitution und Homogenisierung der Gewohnheiten, der Meinungen, des Geschmacks der Subjektivität der Arbeiter und der Verbraucher und andererseits ihre Kommunizierbarkeit.

Die klassische und neoklassische politische Ökonomie und der Marxismus haben durch eine radikale Trennung der Produktion des ökonomischen Werts von den "ästhetischen" oder "theoretischen" Werten die letzteren einfach auf kulturelle oder ideologische Phänomene reduziert.

Im Gegensatz dazu behauptet Tarde, daß alle diese kulturellen, ideologischen oder allgemein sozialen Tätigkeiten sich nicht auf die Verbreitung des Werts begrenzen, sondern daß sie ihrerseits Inventionen und neue Formen der Kooperation schaffen, die die Basis von neuen Produkten und neuem Reichtum bilden.

Im Unterschied zu Schumpeters Konzeption, unvermeidlicher Bezugspunkt für jede ökonomische Theorie der Innovation, der die Innovation als grundlegendes Element des Kapitalismus voraussetzt, begrenzt Tarde nicht diese Kraft der Kreation auf die Tätigkeit des Unternehmers. Die Invention und die Kooperation, die die kapitalistische Maschine in Bewegung setzen, sind nicht ausschließlich industrieller Natur, sie finden nicht allein ihre Quelle in der Relation von Kapital und Arbeit. Sie können auch ethisch-politisch, ästhetisch, wissenschaftlich, militärisch oder juristisch etc. sein. Sie können sich durch die Kooperation der Konsumenten, der Sprecher oder eines Publikums aus Theoretikern, Mechanikern oder Politikern herstellen. Die "kreative Destruktion" ist das Werk von Kräften, die sich auf keine Weise auf die Dialektik von Kapital und Arbeit reduzieren lassen.

"Ich spreche von der tiefen Unruhe des ökonomischen und moralischen Regimes eines Volkes, in dem eine religiöse Bekehrung, eine politische Transformation, das gleichzeitige Erscheinen mehrerer großer Innovationen plötzlich neue Überzeugungen und neue Bedürfnisse herbeiführen, die eine partielle Negation oder Unterdrückung der bis dahin geltenden Prinzipien und Sitten implizieren. Diese plötzliche Transformation des Glaubens und der öffentlichen Meinung, die immer mit Gewalt, innerer Zerrissenheit und Straßenkämpfen einhergeht, wirkt sich in der Produktion einer Menge von neuen Produkten aus, die in der Tat den Wert der alten zerstören."2

"Der fundamentale Impuls" (input) des Zyklus ist also genauso vielfältig wie die "hypo- und hyperpsychischen" Kräfte, die im Spiel sind.

Da alle diese Inventionen der Realität etwas Neues hinzufügen, eröffnen sie die Möglichkeit der Konstitution von neuen Werten, neuen Bedürfnissen und neuen Produkten. Das ökonomische Phänomen konstituiert sich, funktioniert und reproduziert sich nur durch diese Eröffnung von Möglichkeiten und Differenzen, die durch die Kooperation und die Innovation produziert worden sind. Tarde benutzt das Wort "Produktion" für jede Tätigkeit, die etwas Neues produziert, das sich innerhalb des Verhältnisses von Arbeit und Kapital, oder in dem Bereich der Konversation, der öffentlichen Meinung oder des Wissens ausdrückt. Und er versteht unter "Reproduktion" alle diejenigen Tätigkeiten, die sich darauf beschränken, Inventionen und Kooperationen zu wiederholen und zu verbreiten.

Die Distinktion Tardes zwischen Produktion und Reproduktion beruht auf der zwischen aktiven und passiven Kräften, die diese Tätigkeiten in Gang setzen. Eine Konsumtion kann ebenso wie die Arbeit Wünsche und aktive Meinungen hervorbringen und ist in einem solchen Fall auch "Produktion" zu nennen, weil sie etwas Neues erfindet; oder passive Wünsche und Meinungen in Gang setzen und ist in diesem Fall "Reproduktion" zu nennen, weil sie nichts anderes tut, als die Tätigkeit eines Konsumenten oder Arbeiters zu wiederholen oder zu reproduzieren. Die Unterscheidung von Produktion und Konsumtion durchdringt jede Tätigkeit und ist reversibel, weil sie auf die Fähigkeit hinweist, etwas Neues zu schaffen, und nicht auf die Verwertung des Kapitals.

Es bleibt uns noch ein weiterer Aspekt der Wertproduktion hervorzuheben. Die Invention und die Kooperation beschränken sich nicht allein darauf, dem produktiven Zyklus den Impuls zu geben, sondern konstituieren seine innere Dynamik. Eine Invention entwickelt sich durch ihre Wiederholung. Durch diese Wiederholung produziert sie etwas Neues, indem sie mit anderen Inventionen in Konkurrenz tritt oder sich mit ihnen verbindet. Deshalb läßt sich der Prozeß der Wiederholung und Verbreitung nicht auf eine einfache Zirkulation reduzieren, weil durch die Wiederholung eine Invention Gebrauchsweisen (aktive und passive) produziert, andere Verknüpfungen (aktive oder passive) ermöglicht und eine neue Produktion oder eine neue Konsumtion eröffnet.

Wenn die Wiederholung, um die philosophische Sprache Tardes zu verwenden, der Variation untergeordnet ist, ist sie auch eine ihrer Bedingungen.

Die Wertproduktion ist also nicht das Zentrum. Sie entwickelt sich nicht wie in der politischen Ökonomie oder dem Marxismus nach einer linearen Logik: Produktion des Werts, Zirkulation des Produkts, Konsumtion bzw. Destruktion des Reichtums und Realisation des Werts. Die Kette der Produktion des Werts läuft parallel der Fabrikation, Zirkulation und Konsumtion eines Produkts.

Aber sie realisiert sich auch in der ästhetischen, theoretischen und politischen Produktion. Für Tarde ist die Idee der Gleichheit, die mit der französischen Revolution und mit der Verbreitung des Sozialismus am Ende des 19. Jhds. aufgekommen ist, eine produktive Kraft, die große Bedeutung hatte, aber von den Ökonomen vernachlässigt wurde, weil sie eine begrenzte Konzeption des Reichtums und der Kräfte hatte, die ihn produzieren. "… in der Tat müssen soziale Werte, wie Wahrheit, Macht, Recht und Schönheit als Reichtum, d. h. als Tauschwert besitzend, betrachtet werden. Aber der Ökonom sieht keinen Reichtum, der nicht landwirtschaftlich oder industriell ist, sondern aus dem Gesichtspunkt der Kenntnisse, die er selbst impliziert, betrachtet werden kann, oder aus der Macht, die der Reichtum verleiht, oder aus den Rechten, deren Frucht er ist, oder aus seinem mehr oder weniger ästhetischen oder unästhetischen Charakter."3
Die Quellen des Reichtums sind vielfältig und heterogen, weil die Kräfte seiner Hervorbringung es ebenfalls sind.

Um diesen Punkt zu schließen, sollten wir drei grundsätzliche Behauptungen Tardes in Erinnerung rufen: Erstens hängt der Wert von dem Prozeß der sozialen Reproduktion der Invention ab, aber es reicht, daß eine neue Invention erscheint oder daß eine neue Form von Kooperation auftaucht, damit die alten Produkte oder die alten Organisationsformen verschwinden. Zweitens gehören die Erfindungskraft und die Kraft der Kooperation zu dem Ensemble der Aktivitäten und der sozialen Kräfte und sind nicht ausschließlich dem Unternehmer oder dem kollektiven Arbeiter zuzuordnen. In dieser Konzeption der Produktion des Reichtums arbeiten und erfinden alle, sowohl in der Fabrik als auch in der Redaktion einer Zeitung, als auch in einer politischen Bewegung oder in einer Schule. Konsequenterweise sind die Subjekte der Produktion nicht auf die zwei Klassen der Arbeiter und der Kapitalisten zu reduzieren, sondern sie sind in der Heterogenität und der Differenz der Vielfalt zu suchen. Drittens ist die Tätigkeit der Kooperation und der Produktion die Kombination infinitesimaler und multipler Aktionen. Die Invention ist nicht der prometheische Akt eines großen Mannes, sondern die Tat von "kleinen Ideen" (Leibniz), die von kleinen Männern getragen wird. Der Historiker und der Soziologe der Innovation täuschen sich, weil sie den Prozeß nicht betrachten, in dem verschiedene Gehirne kooperiert haben, bevor ein einzelnes Gehirn das Resultat daraus gezogen hat.

Diese Rekonstruktion des Zyklus der Reproduktion des Reichtums scheint besser als die klassische und neoklassische politische Ökonomie dazu geeignet, die Funktionsweise der zeitgenössischen Wirtschaft zu erklären, die die Verwertung des Reichtums auf die verschiedenen Formen von Invention und Kooperation (sozialen, affektiven, kommunikativen, kognitiven, wissenschaftlichen, ästhetischen etc.) konzentriert und alle reproduktiven und repetitiven Operationen sowohl in der Industrie als auch in allen diesen neuen Produktionen externalisiert. (Die Externalisierung ist die Konzentration). Aber die "psychologische Ökonomie" erlaubt uns auch, die Gründe zu verstehen, warum Marx und die Ökonomen nur die Tätigkeit produktiv nannten, die dem Kapital untergeordnet ist.

Was ist produktive Arbeit anderes als eine Tätigkeit, die neuen Wert schafft? Und was ist die Theorie des Profits anderes, als eine passende ökonomische Übersetzung einer Theorie der Kreation? Unterscheiden sich also die politische Ökonomie und die ökonomische Psychologie Tardes durch die Weise, in der sie die "Kreation" als Element der Produktion ökonomischer Phänomene verstehen?

Um auf diese Frage zu antworten, gehen wir davon aus, daß die Besonderheit der kapitalistischen Produktionsweise in der Immanenz ihrer Art der Wertschöpfung und in der Immanenz ihrer Entwicklungsweise besteht.

Marx ist derjenige unter den Ökonomen, der auf die überzeugendste Art und Weise diese immanente Kraft bestimmt hat, die er ohne Zögern dem Kapital zuweist. Das Kapital ist eine Produktionsweise, die als Zweck nicht die Produktion des Reichtums hat, sondern die Kreation des Werts. In einer Situation, in der die objektiven und subjektiven Bedingungen des Reichtums dem politischen und moralischen Kodex nicht mehr untergeordnet, sondern "frei" sind, richtet das Kapital seine Dynamik, seine Kooperation und seine innovative Fähigkeit auf seine eigene Verwertung. Die Kraft des Geldes, das nichts anderes als seine Fähigkeit der Verbreitung und der Verwertung kennt, stellt das Paradigma dieser Dynamik dar. Die Marxsche Formel G - G' drückt diese interne Kausalität aus, dieses immanente Prinzip der kapitalistischen Verwertung. In der Tat ist nur in der kapitalistischen Produktionsweise die Produktion von Mehrwert ein Zweck an sich und immer erneuerter Impuls weiterer Verwertung. Marx denkt, daß das Kapital wegen der Einführung dieser immanenten Kraft eine positive Rolle innerhalb der Geschichte der Menschheit hat, weil es durch seinen Hunger nach neuem Wert die Produktivkräfte und die Produktion von Reichtum entwickelt.

Aber diese Konzeption der Dynamik des Kapitals impliziert, daß die Kooperation des kollektiven Arbeiters und die Anwendung der Invention in der Produktion des Reichtums sich nur von innen und konsequenterweise aus der Entfaltung der kapitalistischen Kraft entwickeln kann. In der Tat, für Marx entwickeln sich die produktiven Kräfte der Arbeit historisch nur mit der Durchsetzung der spezifisch kapitalistischen Produktion und erscheinen somit dem Kapitalverhältnis immanent und untrennbar davon. Nach Marx ist die produktive Kooperation der sozialen Kräfte der Arbeit unabhängig und außerhalb des Kapitalverhältnisses ohnmächtig. Die Fähigkeit der schöpferischen Kräfte, sagt Marx, ist in ihren autonomen Formen überflüssig gemacht worden und wird mit der Durchsetzung der spezifisch kapitalistischen Produktionsweise vernichtet. Nur innerhalb dieser Relation könnten die produktiven Kräfte durch die Vergesellschaftung der Kooperation und die Opposition gegen das Kommando der Organisation der Arbeit ihre Freiheit, ihre Autonomie und ihre Kreativität wiedergewinnen.

Ich finde keine andere Erklärung für Marx' Akzeptanz von Smiths Begriff der produktiven Arbeit als die Zuweisung der produktiven Immanenz zu der Relation von Kapital und Arbeit. Tarde thematisiert auf differente Weise den Begriff der produktiven Immanenz. Tardes Zyklus des Werts ist wie das Kapital von einer immanenten Kraft der Schöpfung neuer Werte beseelt, aber im Unterschied zu den klassischen Ökonomen und zu Marx ist sie der Vielfalt der sozialen Kräfte und deren Fähigkeit zu Invention und Kooperation zugesprochen. Auf dieselbe Weise wie das Kapital haben die Inventionen und ihre Verbreitung nicht die Produktion eines Werts oder einer sozialen Quantität, nämlich die Produktion des Reichtums, zum Motor und Zweck, sondern die Kreation von etwas Neuem, die Behauptung einer Differenz, einer Singularität, einer Heterogenität und die "Notwendigkeit" für diese Differenz, sich durch die Aneignung anderer Kräfte und durch die Unterordnung anderer Inventionen in der Welt zu entwickeln.

Die Ausdrucksweise der Invention und ihrer Verbreitung ist von Tarde als "Differenzierung der Differenz" bestimmt. Ihre Bewegung und ihre Dynamik sind durch die Veränderung charakterisiert, aber durch eine sich selbst verändernde Veränderung: Eine Bewegung und eine Kraft der Veränderung, die einen inneren Grund der Veränderung haben.

Wie in der Marxschen Formel für das Kapital, G - G', findet die Produktion von Mehrwert in sich selbst ihre Entwicklungskraft und ihren Zweck; aber statt eine quantitative Differenz zu produzieren, produziert sie eine qualitative Differenz, eine Singularität, die wegen ihrer mimetischen Verbreitung einen neuen Wert konstituiert. Das Geld drückt besser als andere "soziale Qualitäten" diese immanente Kraft des Begehrens aus, aber man muß sich nicht über den inneren Grund täuschen, der es bewegt. Die immanenten Kräfte, die die Dynamik entfalten, sind das Begehren und der Glaube: "Warum wächst Tag für Tag der Hunger nach Gold in unseren Gesellschaften, die sich vom Glauben gelöst haben? Weil die Versicherung, die das Gold seinem Besitzer gibt, zwei unterschiedene Charaktere hat, die für ihn ökonomisch die Bedeutung des Glaubens haben. Es gibt in der Unbestimmtheit des mysteriösen Inhalts des zukünftigen Glücks, das das Geld verspricht, eine scheinbare Unendlichkeit, eine unbegrenzte Perspektive, von der sich der Mensch nicht löst. Außerdem verkörpert das Geld einen gemeinsamen und allgemeinen Glauben, der unverzichtbar für eine Gesellschaft ist."4

Tarde erwartet von dem subjektiven Aspekt (Begehren und Glauben), den die ökonomische Wissenschaft bisher als Stiefkind behandelt hat, die Erklärung der ökonomischen Phänomene. Die außerordentliche Kreativität der ökonomischen Kräfte, die die Moderne entfaltet hat, sollte man, nachdem die ihnen wesentliche Expansivität und ihre schöpferische und gestalterische Kraft nicht mehr von irgendeiner Transzendenz oder prästabilisierten Harmonie begrenzt oder reguliert wird, in der Kraft des Begehrens und des Glaubens, in der Möglichkeit des Handelns und des Denkens suchen.

Für Tarde sind die moralischen Züge der Moderne, die in seiner Metaphysik der psychologischen Kräfte die Form der Leidenschaften und Aktionen annehmen, bestimmt von der "wechselseitigen Überreizung der Begehrlichkeit, der Gier, der Kühnheit und zugleich von dem Bruch jeder inneren und äußeren Bremse, die sie aufhalten könnte; durch die Auflösung alter Ordnungen vor der Einrichtung neuer; durch die Verwirrung der Individuen, die für sich genommen vernünftig wären, aber für die noch keine kollektive Vernunft, die aus der Tradition oder einem Gesetz abgeleitet wäre, an die Stelle ihrer persönlichen Vernunft, die abgedankt hat oder geschwächt worden ist, getreten ist."5

Die "Zivilisierten" suchen nicht mehr ihre Emanzipation in der Vernichtung der Begierde wie die alte Moral, sondern einerseits in der Intensivierung und andererseits in der immer intimeren Solidarität zwischen den Individuen.

Die Dynamik, die sich aus dieser Ontologie der Kräfte entwickelt, ist die eines beweglichen Gleichgewichts, einer dynamischen Stabilität, in der das Gleichgewicht, anders als in der klassischen Ökonomie, nichts anderes als die Bedingung für die Produktion einer noch größeren Bewegung und Differenz ist.

Marx und Tarde beschreiben genau die Besonderheit der immanenten Dynamik der ökonomischen Bewegung in der Moderne, indem sie das Unendliche in die Endlichkeit einführen, aber sie verstehen die immanente Potenz der Produktion (Kreation) auf verschiedene Weise. Marx behauptet den Vorrang des Kapitals vor den produktiven Kräften. Im Gegensatz dazu stellt Tarde den ontologischen Vorrang der Invention und der Kooperation der Kräfte vor der Relation von Kapital und Arbeit fest. Interessant ist die Logik der "ökonomischen Psychologie" für uns, weil sie uns zwingt, die Dynamik der Kräfte eher als vorläufige ontologische Dynamik, wenn nicht historisch, als ökonomische Dynamik (des Kapitals) zu denken.

Marx entwickelt im Grunde eine Theorie der Selbstverwertung des Kapitals und, daran anknüpfend, eine Theorie des Widerstands und des Konflikts (nämlich der Ausbeutung), die aus seiner Selbstverwertung resultieren. Tarde dagegen entwickelt eine Theorie der Selbstverwertung der sozialen Kräfte und eine Theorie der Konflikte, die aus der Logik der Kombination/Komposition dieser Kräfte resultieren.

Die erstgenannte Theorie ist eine "Kritik" der Ökonomie des Kapitals, die zweite ist eine politische Ökonomie von Kräften. Diese Theorie stellt den ursprünglichen Sinn des Syntagmas "politische Ökonomie" wieder her, der durch die Ökonomisten völlig verdreht worden ist. Denn der Sinn, den Adam Smith diesem Syntagma verliehen hat und der ihm seither anhaftet, läßt uns die entscheidende Neuerung übersehen, die dieser Ausdruck darstellte, als er geprägt wurde. Neu war die Verbindung der Ökonomie (in der Bedeutung des oikos, des Hauses: der Regierung der Familie) und der Politik (in der Bedeutung der Regierung der polis); neu war die Verbindung des Menschen als eines Lebewesens, das sich in der Führung des Hauses realisiert, und des Menschen als eines politischen Subjekts, das sich im Stadtstaat realisiert. Der Sinn des Syntagmas "politische Ökonomie" ist verloren gegangen und mit ihm die Neuerung, die es für die abendländische Geschichte bedeutete. Denn es führte zusammen, was in der griechischen und römischen Tradition immer getrennt worden war: das natürliche Leben und das politische Leben. Dies ist verdeckt worden durch eine Theorie des Kapitals, der die klassische politische Ökonomie und der Marxismus verhaftet sind. Der ursprüngliche Sinn der politischen Ökonomie verweist aber in der Tat auf eine Vielfalt von sozialen, politischen und ökonomischen Kräften sowie auf deren Organisation zum Zweck der Produktion eines Surplus.

Auf der Grundlage dieser Interpretation der Theorie Tardes darf man die expansive Kraft des Kapitals, das unablässig die Grenzen, an die es stößt, in Hindernisse verwandelt, die zu überwinden sind, nicht innerhalb des Kapitalverhältnisses situieren. Man muß das Geheimnis der Marxschen Formel G - G' (der Wert, der selbst Wert hervorbringt) als das der Integration, Überwältigung und Beherrschung dieser expansiven Kraft interpretieren: als das der Integration des Strebens nach Invention und Kooperation. Die Dynamik dieser Kräfte begründet die Gesetze der Ökonomie und nicht umgekehrt. Die Ökonomie und ihre Dispositive (Tausch, Markt, Arbeitsteilung) beuten die immanenten psychologischen Kräfte aus, indem sie deren Dynamik beherrschen; sie bezeichnen aber weder deren Ursprung noch die Quelle ihrer Transformation.

Es ist verlockend, die Überlegungen Marx' und Tardes aufeinander zu beziehen, um deren jeweilige Beschränkung zu überwinden: Marx zeigt, wie das Kapital die Transzendenz in die Immanenz einführt; Tarde hingegen beharrt auf der "absoluten Immanenz" der Produktion des Reichtums. Auf dieser Grundlage muß er den Begriff der Ausbeutung neu definieren. Denn das Kapital hat Tarde zufolge keine "fortschrittliche" Funktion; es erweist sich nicht als der soziale Agent, der die immanenten Kräfte der Erzeugung und Hervorbringung entbindet, sondern im Gegenteil - um mit den Worten Félix Guattaris zu reden - als der Agent der "Anti-Produktion".

Indem Tarde die Unterscheidung zwischen "materiellem Kapital" und "intellektuellem Kapital" zugrunde legt, zeigt er, daß der Marxsche Begriff der Ausbeutung - der auf dem Konzept der Arbeitszeit beruht - sich nur im Rahmen einer durch das materielle Kapital beherrschten Produktion bewährt; einer Produktion nämlich, die durch ein Kapital bestimmt ist, das reproduktiv fungiert und sich in der bloßen Wiederholung erschöpft. Ein solches Kapital trägt lediglich zur Verbreitung eines Produkts bei, indem es dazu zwingt, dessen Herstellung zu rationalisieren. Eine Produktion hingegen, die durch Invention und Kooperation gekennzeichnet ist, macht die Vorstellung einer politischen Ökonomie obsolet, die in der Knappheit und Ausbeutung der "Arbeit" fundiert sei.

Ausgehend von seinem Begriff einer immanenten Potenz der Produktion faßt Tarde die soziale, affektive, kognitive, kommunikative und virtuelle Dimension der Produktion ins Auge. Sein Begriff des Reichtums und des Produktionszyklus des Werts schließt diese Dimension ein, während Marx und die klassischen Ökonomen sie mißachten. Heute führt die politische Ökonomie selbst die entsprechende Operation aus, da "die theoretische und die ästhetische Seite aller Güter an Bedeutung gewinnt. Diese beiden Aspekte machen sich nicht auf Kosten, sondern zugleich mit den nützlichen Aspekten der Güter geltend."

Die theoretische Verschiebung, die Tarde vornimmt, bringt ihn unausweichlich in einen Gegensatz zu dem Begriff der "produktiven Arbeit" der klassischen Ökonomie und des Marxismus sowie in einen Gegensatz zu dem Begriff der produktiven Konsumtion, den Smith geprägt hat. Warum eigentlich, so fragt Tarde, gilt nur die Konsumtion, die in die Reproduktion der vom Kapital angewandten Arbeitskraft eingeht, und solche Ausgaben, die ihrer Produktion und Reproduktion dienen, als produktiv? Tarde antwortet mit einer Provokation - einer Provokation allerdings, die ein "ontologisches" Fundament besitzt. Sie verweist auf seine Konzeption der psychischen Kräfte. Wenn die Potenz der Produktion diesen Kräften entspringt, dann muß die "Muße" den Ökonomen ebenso interessieren wie die "Arbeit". Unter "Muße" ist nicht nur das "Vergnügen" zu verstehen, sondern jede Form der Beziehung, jede Form kollektiven Handelns. "Freiheit und Notwendigkeit" mischen sich darin in anderer Weise als in der Arbeit.

Eine der wichtigsten Fragen, die die politische Ökonomie zu beantworten hat, lautet, "in welchem Verhältnis die Muße zur Arbeit stehen und wie die Muße unter den Menschen verteilt werden soll." Diese Frage "ist von nicht geringerer Bedeutung als die nach der Verteilung der Arbeit und des Reichtums". (Tarde) Unter dem Gesichtspunkt der Verwertung der (psychischen) Kräfte sind Arbeit und Muße einander nicht mehr entgegengesetzt. Otium (Müßiggang) und Nec-Otium (Nicht-Müßiggang, Handel) verweisen nicht auf die Unproduktivität beziehungsweise Produktivität einer Handlung; vielmehr erweist sich das "Recht auf Faulheit" der ökonomischen Theorie Tardes zufolge als eine Bedingung der Invention und Kooperation. Demnach sind es sehr wohl die gemeinsame Aktion, die Kraft der Kombination und die Fähigkeit der Verkettung, die in der Invention und Kooperation wirksam werden und so etwas Neues, ein "Surplus" schaffen.

Die "gemeinsame Aktion" kann sich ebenso in der Arbeit wie in der Konversation, der Konsumtion, der Muße und den Festen ausdrücken. Auch die Organisation der Arbeit in den großen Unternehmen sollte man unter dem Gesichtspunkt der "Kooperation" und der Fähigkeit des Ausdrucks, das heißt unter dem Gesichtspunkt der Sympathie der Arbeiter und nicht unter dem der Dienstleistung und des Nutzens betrachten. Wenn es einen Unterschied zwischen Arbeit und Muße gibt, dann betrifft er allein die Form und den Zweck der kollektiven Aktion; er betrifft die Zwänge und Wirkungen dieser unterschiedlichen Weisen der Kooperation. Durch ihre Arbeiten, so Tarde, dienen die Menschen einander, während sie durch ihren Müßiggang, durch Feste und Spiele einander erfreuen. Hier erst gelangen sie zu wahrhaft freier und wahrhaft sozialer Übereinstimmung.

 
 
Anmerkungen

1
Tarde, Gabriel: L’opposition universelle, S. 394.
2 Ebd., S. 357.
3 Tarde, Gabriel: Psychologie Economique, Band I, S. 67.
4 Tarde, Gabriel: Logique sociale, S. 515.
5 Tarde, Gabriel: Psychologie Economique, Band II, S. 202.
 
 

PDF-Icon Download als PDF-Dokument (62 KB)
RTF-Icon Download als RTF-Dokument (41 KB)

Dieser Beitrag erschien erstmals im Online-Magazin com.une.farce – zeitschrift für kritik im netz und bewegung im alltag.